Mittwoch, 7. Februar 2018

Wege zu einer humanistischen Erkenntnislehre - Positionen arabisch-islamischer Welt-Philosophie


Mohamed Turki:
Einführung in die arabisch-islamische Philosophie.
Freiburg / München: Karl Alber (Herder) 2015, 229 S.
--- ISBN: 978-3-495-48750-1 ---
Mohamed Turki (geb. 1945) gehört zu den wichtigen Vertretern einer interkulturellen Philosophie. Er schlägt eine Brücke zwischen arabischen und europäischen Vernunftdebatten. Sein Denken schulte er mit philosophischen Studien in seinem Heimatland Tunesien und auch in Deutschland und Frankreich. Nach einem weiterführenden Studium der Philosophie, Romanistik und Soziologie an der Universität Münster (Westfalen) lehrte er Philosophie an den Universitäten Bremen, Kassel, Frankfurt /M., aber auch in Tunesien.

Mehr zu seiner Person und seiner philosophischen Ausrichtung
:
https://religiositaet.blogspot.de/2018/01/philosophische-orient-okzident.html

In der hier vorgelegten Einführung in die arabisch-islamische Philosophie betont er die tiefen Wurzeln sowie die wechselseitige Durchdringung von griechischer Philosophie, islamisch-rationalistischer Theologie und mystischer Erleuchtungslehre mit dem Ziel, „einen Beitrag zur Philosophiegeschichte in interkultureller Perspektive [zu] leisten“(S. 11)..
Der Autor belässt es jedoch nicht mit einer Darstellung der aufklärerischen, „klassischen“ Periode des Mittelalters, vielmehr zeigt er Kulturen übergreifende Verbindungslinien islamischer Philosophie. Das spannungsreiche Verhältnis von Tradition und Moderne, Identität und Aufklärung kommt damit vielfältig zur Sprache. Um die Bedeutung der arabisch-islamischen Philosophie auch für den gegenwärtigen philosophischen Diskurs zu verdeutlichen, hat er seine Darstellung in den Weltkontext wichtiger Denktraditionen eingeordnet. Das geschieht in 7 Abschnitten – sowohl systematisierend als auch chronologisch orientierend:
1.  Die arabische Variante der Weltphilosophie:
Dafür sind zuerst Klärungen zum Verhältnis von Philosophie und Theologie vorzunehmen sowie die Entstehung einer geradezu diskursfreudigen rationalistischen Theologie im Sinne von „Kalam“ zu beleuchten. (S. 15–50). So rückt Turki das arabisch-islamische Kulturerbe in den Gegensatz zu der auch von Hegel vertretenen eurozentrischen Meinung, dass die Araber über die Erläuterungen zur göttlichen Offenbarung nie hinausgekommen sind (S. 15f).
Der Fokus ist darum insgesamt auf den Mittelmeerraum zu richten, weil von dort Philosophien ausgingen, die die Welt veränderten. So ist auch die arabische Philosophie in der Aufnahme, dem Transfer und der flexiblen Umgestaltung antiker Geistesströmungen und damit im Weltkontext zu sehen.
2.  Die Entstehung des Kalam im Sinne offener theologischer Positionen: Turki zeigt, dass die intellektuellen Auseinandersetzungen in Mohammeds frühem Tod und dem politischen Streit um seine Nachfolge begründet liegen. So werden innertheologische Debatten freigesetzt, die in den mu’tazilitischen Schulen und ihrer Absage an jeglichen Dogmatismus gipfelten.
Diese Richtung entstand im 9. Jahrhundert in Basra. Wichtige Vertreter sind u.a.
Abu‘- Hudhail al-`Allaf (8./9.
Jh.),
Ibrahim al-Nazzam (ca. 775–ca. 848),
 Abu Ali al-Jubbai (10.
Jh.) und al-Qadi Abd al-Dschabbar  (935–1025).
Auch in Bagdad entstand eine mu’tazilitische Schule – (vgl. S. 40f).

Ihre Prinzipien
sind: Einheit, Einzigkeit Gottes, seine Gerechtigkeit und seine Verheißungen und Drohungen. Der Mensch steht also in seinem Leben zwischen Glauben und Unglauben. Das nötigt zu gutem Handeln im Sinne praktischer Ethik. Daraus entwickelt sich eine Debatte in der Spannung von Willensfreiheit und göttlicher Prädestination im Horizont der (Wesens-)Eigenschaften Gottes. In diese Grundspannung gehört auch die Frage nach der Schöpfung als einer „creatio ex nihilo“ und die Überlegungen zur Ewigkeit bzw. Erschaffung des Koran als Gottes Offenbarung. Für die Mu’taziliten gehört er in die Zeitlichkeit. Die Ash’ariten nahmen hier eine vermittelnde Position ein. Das zeigt Turki an al-Ash’ari (874–935) selbst, aber auch an dem sich ausweitenden hermeneutischen Streit in der Herausarbeitung logischer Prinzipien im Gegenüber zu den Gesetzen der Grammatik.
3.  Die Herausarbeitung einer humanistischen Erkenntnislehre:
In diesem Streit treten u.a. al-Kindi (ca. 800–873), der „Philosoph der Araber“ (801–873),
al-Farabi (872–950) und schließlich al-Ghazali (1058–1111) besonders hervor. Diese Denker verinnerlichen verstärkt das griechische Denken, besonders des Aristoteles. Sie sind geprägt vom Wort in seiner geoffenbarten Wirkmacht und seiner vernunftgemäßen Kraft. Sie beschreiben den Intellekt in seinen unterschiedlichen Erkenntnisfähigkeiten auf neue Weise. Sie beziehen sich teilweise kontrovers auch auf die neuplatonischen Lehren Plotins (205-270). Bei al-Farabi hat dies zur Folge, dass er vom Einen Gott her den Intellekt kosmologisch und anthropologisch im Sinne einer Emanationslehre definiert. Der Mensch steht in universalen Zusammenhängen. Diese bilden den Hintergrund für die Ausbildung einer humanistischen Ethik, so am deutlichsten Ibn Miskawayh (932–1029) und al-Tawhidi (ca. 930–1023).
4./5.  Die Blüte des philosophischen Denkens zwischen Bagdad und Córdoba:
Turki führt den Lesenden durch die weitere Geschichte der islamisch-arabischen Philosophie, indem er von den „Lauteren Brüdern von Basra“ ausgeht. Diese unternahmen im Zweistromland bereits im 10. Jahrhundert, was die europäischen Enzyklopädisten erst im 18. Jahrhundert angingen, nämlich das Unterfangen, eine Sammlung des universalen Wissens herauszugeben. Dann folgen der Naturphilosoph Abu Bakr ar-Razi (865–925) und schließlich Avicenna / Ibn Sina (980-1037) mit seinem Einheitsdenken – der Mensch als Mikrokosmos im Makrokosmos (S. 93) und die Seele als eigenständige intelligible Instanz, die ihr Ego als existierendes Wesen erkennt (S. 98). Die Seele muss darum von allen Fesseln befreit werden, „die ihr Streben nach Wahrheit verhindern“ (S. 101).
Gegen diese Erleuchtungstendenz und die damit zusammenhängende Unsterblichkeit der Seele wendet sich Al-Ghazali, weil damit die Auferstehung des Leibes geleugnet würde (S. 108). In dieser Auseinandersetzung steht das Verständnis einer eigenständigen Individualität zur Debatte. Darauf kommt Turki u.a. auch bei Ibn Abdun (ca. 930-995), dem jüdischen Philosophen Ibn Gabirol (1021-1070) und Ibn Bajja (1095–1138) zu sprechen. Weiterführend beschreibt der Autor bei Ibn Tufail (1105-1185) den Weg der menschlichen Erkenntnis – beginnend mit der sinnlichen Wahrnehmung bis zum rationalen Aufstieg des Intellekts bis zur inneren Schau der göttlichen Wahrheit (S. 121).Der konsequenteste und eigenständige Aristoteles-Vermittler und Kommentator unter den arabischen Philosophen: Averroes / Ibn Rushd (1126-1198) beruft sich u.a. auf ihn. Für den berühmten „Kommentator“ „gibt es keinerlei Widerspruch zwischen Wissen und Glauben hinsichtlich des Zwecks ihres Erkennens und infolgedessen keine >doppelte Wahrheit<, wie dies von der Scholastik behauptet wurde“ (S. 135). Die Philosophie wird auch nicht die Magd der Theologie wie bei Thomas von Aquin. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der christliche Averroismus keineswegs durchgängig dem Thomisten folgte. Al-Ghazali hatte unter Berufung auf die Allmacht Gottes die Kette der Ursachen als bloßes Ergebnis der Gewohnheit interpretiert. Zwar hatte Averroes natürliche Ursachen nicht leugnet, weil Gott die erste Ursache der Weltordnung ist. Er stellt aber heraus, dass ein Kausalzusammenhang nicht immer erkennbar ist. 

Vgl. zum Verständnis des Intellekts bei Averroes
 
meine Rezension --- https://buchvorstellungen.blogspot.de/2018/01/wieder-im-blickfeld-averroes-und.html


Auch wenn Orientalisten behauptet haben, mit Averroes sei die islamische Philosophie an ihr Ende gekommen, kann Turki sehr schön zeigen, dass gerade die Korrelation von Mystik und Rationalität sich auch in späterer Zeit durchhält und unter anderen politischen Bedingungen wieder neu aufflammt.

6.  Von einer rational offenen Mystik zur Theosophie im Sinne „göttlicher Weisheit“
In diesem Kapitel zieht Turki auch Positionen westlicher Orientalisten und Philosophen der jüngeren Gegenwart heran, um dadurch die Beziehungen zwischen arabisch-islamischem und europäisch-[post]-christlichem Denken zu verdeutlichen. Hauptsächlich geht es jedoch darum, wichtige Etappen islamischer Mystik-Geschichte in Erinnerung zu bringen: Rabia von Basra, Al Halladj, Rumi, Suhrawardi und die Schule der Illumination und ganz entscheidend Ibn Arabi von Murcia (1165–1240). Gerade der Letztere betont die Einheit des Seins im kosmologischen Kontext des vollendeten Menschen. 
Schließlich kommt noch Mulla Sadra (1572–1640) zur Sprache, der durchaus eine ähnliche Zielrichtung wie Ibn Arabi hat: „Das Sein erhält bei ihm eine absolute Priorität und stellt die umfassende Realität dar, die auch Gott mit einschließt“ (S. 168). Dieses reine Sein kann in den Dingen wirken: Manifestation des Göttlichen und Konstitutivum eines weiter wirkenden Schöpfungsprozesses.

Vgl. meinen Beitrag „Orientierung zum Sufismus“:
https://textmaterial.blogspot.de/2016/06/orientierung-zum-sufismus-wird-erweitert.html
Und meine Rezension des Buches von Claude Addas:Ibn Arabi et le voyage sans retour 1996/2013): https://buchvorstellungen.blogspot.de/2016/01/der-mystiker-ibn-arabi-reisen-im.html

7.  Eingrenzungen und Erneuerungen: 
Nicht einfach chronologisch, sondern systematisierend nimmt Turki die in den vorigen Kapiteln dargestellte Thematik unter dem Aspekt der Erneuerung wieder auf.
Mit Blick auf die Logik des Fachr ad-Din ar-Razi (1149–1210) und den Wirkungen einer islamischen Aristoteles-Rezeption kann der Fokus nicht nur auf die Widerlegung und Einengungstendenz von Ibn Taimiya (1263–1328) gelegt werden. Es zeigt sich nämlich die Entwicklung einer Ethik, „die auf einem Prinzip des gesellschaftlichen Zusammenlebens beruht, das von der Liebe der Menschen zueinander als Zeichen ihres Strebens nach Eintracht getragen wird“ (S. 174), so der berühmte Mathematiker, Astronom und Philosoph Nasîr al-Dîn Tusi (1201-1274). Besonders hervorzuheben ist jedoch Ibn Khaldun (1332–1406), der Begründer der Soziologie und der Geschichtswissenschaft im heutigen Sinne, die sich der kritischen Analyse der Fakten bedient, um von daher eine eigenständige Theorie geschichtlicher Prozesse zu entwickeln (S. 178). Damit war für ihn die religiöse Vorstellung einer Heilsgeschichte erledigt. Er arbeitet vielmehr zeigen sich evolutionäre Prozesse heraus. Er sieht allerdings im Zyklus von der Geburt bis zum Tod bzw. dem Verfall, ohne dass jedoch ein strenger Determinismus leitend wäre – immerhin jedoch „ein Wille zur Macht“, der an Nietzsche erinnert (S. 186).
Die neuzeitliche Phase als Bruch mit dem Bisherigen und neueren Reformansätzen macht Turki an der Eroberung Ägyptens 1798 durch Napoleon fest. Unter den Vorgaben europäischer Aufklärung und des Kolonialismus bringen die Reformer des 19. Jahrhunderts wie at-Tahtawi (1801–1873), Kheireddine at-Tunisi (1820–1890), Abderrahman al-Kawakibi (1855–1902), Jamal ad-Din al-Afghani (1839–1897) und Muhammad Abduh (1849–1905) die Religion ins Spiel: „Zwei zentrale Themen bestimmen seine [al-Afghanis] Weltanschauung: die politische Einheit unter den islamischen Völkern im Sinne eines Panislamismus, der sich dem europäischen Kolonialismus widersetzen sollte, und ein reformierter Islam, der von innen heraus gestaltet werden sollte …“ (S. 192f). Blickt man von da aus in die Gegenwart, dann erinnern Namen wie Ali Abd ar-Raziq (1888–1966), Abdul Rahman Badawi (1917–2002), Mohamed Aziz Lahbabi (1923–1993) und einige andere wichtige Autoren daran, eine islamische Anthropologie unter dem Kennzeichen der Freiheit zu formulieren. Nur einige Philosophen kann Turki in diesem Zusammenhang nennen, weil der Kreis derer, die Vernunft und Glaube in eine undogmatische Relation bringen, doch größer ist, als mancher im Westen denkt. Hier hat sich eine innerislamische Debatte in den letzten Jahren wesentlich verstärkt.
Darum verweist Turki in seinem Ausblick auf (fragwürdige) Versuche, Tradition und Moderne dialektisch durch eine erneute Renaissance aufzuheben, während andere – wie Abdelmajid Charfi, Seyyed Hossein Nasr, Abdelkarim Soroush und Farid Ishaq – dafür plädieren, Koran, Sunna und die muslimische Geschichte kritisch zu hinterfragen. Sie möchten damit das Bild eines monolithischen Islam aufbrechen und Grundlagen für eine neue, kontextuelle Hermeneutik schaffen. Dieser Diskurs ist derzeit noch völlig offen.
und die stärker an einzelnen Personen orientierte „Einführung in die islamische Philosophie“
von Hamid Reza Yousefi (2014):
Rezension:
https://buchvorstellungen.blogspot.de/2014/08/buch-des-monats-august-2014-die.html
Bilanz
Mohamed Turki schafft es, auf relativ wenigen Seiten und dennoch präzise, die variantenreiche Geschichte der arabisch-islamischen Philosophie in Grundzügen darzustellen. Er bindet einzelne Philosophen und Denkschulen in den Gesamtzusammenhang der jeweiligen geistesgeschichtlichen Kontexte und ihrer Weiterentwicklungen ein. So entsteht ein Bild islamischer Geistesgeschichte, das dazu herausfordert, den west-östlichen Dialog verstärkt fortzusetzen. Anknüpfungspunkte und temporäre Parallelentwicklungen bieten genügend Ansätze zu einer interkulturellen Philosophie.

Reinhard Kirste 

Rz-Turki-Philosophie, 07.02.18 


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen