Montag, 1. Januar 2018

Buch des Monats Januar 2018: Südtiroler Aspekte zur Reformation - Die Philosophisch-Theologische Hochschule in Brixen

Jörg Ernesti / Markus Moling / Martin M. Lintner (Hg.):
Weltereignis Reformation / Evento Riforma.
Anstöße und Auswirkungen.

Brixener Theologisches Jahrbuch 
---  Annuario Teologico Bressanone, 7. Jg. / Anno 2016
Innsbruck-Wien: Tyrolia 2017, 256 S., Abb.
--- ISBN 978-3-7022-3603-
8 ---


Die Veröffentlichungswellen angesichts der vielen Reformationsfeiern 1517–2017 mit dem Focus Wittenberg sind abgeklungen. Da lohnt ein Blick zurück in eine Region, die man nicht gerade mit Luther verbindet: Südtirol. Die Philosophisch-Theologische Hochschule in Brixen (PTH) brachte im Rahmen ihrer Jahrbücher schon frühzeitig einen bemerkenswerten Band heraus. Die dortigen ProfessorInnen gedachten in besonderer Weise im Verbund mit den Universitäten Trient, Bozen und Innsbruck des Reformationsjahres: Sie untersuchten historische, kunsthistorische, theologische und spirituelle mittelalterliche Beeinflussungen und Folgewirkungen dieses „Weltereignisses“.
Dies klingt bereits im Geleitwort des Bischofs von Bozen-Brixen, Ivo Muser, an. Er betont, wie die protestantische Reformation die katholische Theologie im Gefolge des Trienter Konzils wesentlich beeinflusst hat. Der ev.-luth. Pfarrer von Bozen, Marcus Friedrich, verweist auf die erstaunlichen Initiativen in Südtirol zum Reformationsjahr und sieht selbstkritisch, dass durch die Kirchenspaltung den Kirchen der Reformation auch viele „geistliche Kostbarkeiten“ verloren gingen.
Mit einer aktuellen Zwischenbilanz zum Kirchenverständnis beginnt der Dogmatiker Christoph J. Amor. Sehr deutlich resümiert er: „Man kann nicht an die Kirche glauben, wie man an Gott, den Vater, den Sohn und den Hl. Geist glaubt. Und zwar deshalb, weil die Kirche nicht Gott ist“ (S. 27). Aber sie ist zur Heiligkeit berufen. Dies wird allerdings immer wieder durch kirchliche Skandale konterkariert.
Was als katholisch-evangelischer Stolperstein scheinbar offen zutage liegt, ist die Marienverehrung. In seinem zweiten Beitrag zeigt Christoph J. Amor darum, wie tief die Marienverehrung in der katholischen Tradition verwurzelt ist. Aber der Autor betont im Blick auf Konzilsbeschlüsse seit dem Vaticanum II zugleich, dass die Maria von der Christologie her gesehen werden muss. Insofern gewinnt sie als gläubige Hörerin des Gotteswortes, Beterin und spirituelle Pilgerin eine Vorbildfunktion. Die Bezeichnung „Gottesmutter“ ist darum im Sinne Karl Rahners als Mariens „frei-personale“ Offenheit für das göttliche Heilsangebot zu verstehen (S. 41).
Nicht verwunderlich ist, dass in Brixen auch Nikolaus von Kues ins Bild rückt. Er war u.a. Kardinal von Brixen, und hatte dieses Amt neben seinen vielen anderen Ämtern und Pfründen zwischen 1450 und1458 inne: Seine Zeit lässt unter kunstgeschichtlichen Aspekten Leo Andergassen, der Direktor des Südtiroler Landesmuseums Schloss Tirol, Revue passieren. Als Beispiele wählte er neben dem Passions-Bildprogramm der Kirche St. Johann in Mellaun eine Reihe von weiteren Kirchen der Region sowie in Brixen. Unter der Ägide des Malers Leonard von Brixen fordern die Darstellungen dazu heraus, sich auf das Passionsgeschehen im Sinne einer „imitatio Christi“ einzulassen. Diese Kreuzestheologie ist zugleich auf die Eucharistie fokussiert.
Der Trienter Dogmatiker Cristiano Bettega stellt den Theologen Girolamo Seripando (1493–1563) vor, der mit seiner reformorientierten Theologie das Trienter Konzil wesentlich beeinflusste. Er war übrigens Generalprior des Augustiner-Eremitenordens, dem auch Luther in seiner Klosterzeit angehörte. Eine gewisse Nähe zu Luthers Freiheitsverständnis- und Rechtfertigungslehre ist nicht zu übersehen. Auch wenn Seripando theologische Gegenpositionen aufbaute, war für ihn doch die Reform der Kirche ein entscheidendes Anliegen.
In den Gesamtzusammenhang der Reformation führt der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti ein. Von der heutigen Vielfalt des Christentums und den theologischen „Urimpulsen“ Luthers gleichermaßen ausgehend kommen die reformierten Kirchen sowie die Entwicklung der Freikirchen weltweit in den Blick. Er resümiert mehr holzschnittartig: „Gemeinsam ist den >evangelischen< Kirchen bei aller Verschiedenheit die zentrale Bedeutung des Gotteswortes, die Betonung der religiösen Erfahrung, das Engagement von Laien und ein im Vergleich zum Katholizismus und zur Orthodoxie weniger stark entwickeltes Amt“ (S. 101).
Das ökumenische Gespräch, genauer das katholisch-evangelische prüft der Alttestamentler Ulrich Fistill (PTH) an der Bedeutung des biblischen Kanons im Sinne seiner Verbindlichkeit als Heilige Schrift. In den ökumenischen Debatten seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts war dies eher ein Randthema, obwohl es einen durch die sog. deuterokanonischen Schriften weiteren „katholischen“ und einen auf die hebräische Bibel engeren  „evangelischen Kanon gibt. Hier bleibt ein bis heute ungelöstes Dilemma protestantischer und katholischer Bibelausgaben, die sich mit ihren neuesten Bibelausgaben wieder stärker auf Luther bzw. auf die Septuaginta-Tradition berufen. Für die meisten Christen dürfte dies jedoch wohl ein Randthema bleiben …
Dass mit Luther auch ein neues Verständnis des Individuums in Erscheinung zu treten schien, diskutiert Martin M. Lintner (PTH) sowohl am Leben und Wirken des Reformators als auch an seinen Schriften. Er zieht dazu die unterschiedlichen Einschätzungen innerhalb der protestantischen Theologie heran. Die spätmittelalterliche via moderna und die Innerlichkeit betonende devotio moderna begünstigten zumindest eine Haltung, die das Seelenheil nicht mehr direkt mit der Kirche verknüpfte. Gott hat den Menschen in seiner Barmherzigkeit – allein aus Gnade schon gefunden, so dass er vor Gott als Gerechter und Sünder zugleich auf neue Weise zu sich selbst findet.
Mit dem US-amerikanischen Philosophen Alvin Carl Plantinga (geb. 1932) beschäftigt sich der Philosoph Winfried Löffler (Universität Innsbruck), weil seine Religionsphilosophie die Frage nach der Rationalität des religiösen Glaubens vehement aufwirft. Seine zentrale These einer „Reformierten Erkenntnistheorie“ ist: „Religious belief can be properly basic“ (S. 144). Ausgeführt bedeutet dies, dass naturalistische Positionen irren, wenn sie ohne den Glauben an Gott auszukommen meinen, oder behaupten, mit Hilfe der Evolutionstheorie kognitive Fähigkeiten erklären zu können. Aber selbst wenn man wie Plantinga versucht, die Beweislast umzukehren, bleiben offensichtlich theologische Voraussetzungen im Stile von Descartes leitend.  
Der Aufsatz des Sozialwissenschaftlers Walter A. Lorenz (Freie Universität Bozen) geht dagegen von den Säkularisierungstendenzen der Gegenwart aus. Sie sind aus dem Kontext spätmittelalterlicher Transformationsprozesse erwachsen. Luther ist dafür ein herausragendes Beispiel, denn „die Reformation eröffnete grundsätzlich einen anderen Zugang zur Moderne und zur Säkularisierung, indem sie den Menschen dazu befreite, ihre Intelligenz und Erkenntnis weltlicher Zusammenhänge einzusetzen, ohne dass dadurch die Bedeutung Gottes und seines Wesens in Frage gestellt würde“ (S. 166). Luthers Betonung des fernen Gottes und die Begrenzungen und Schuldhaftigkeit angesichts der Verantwortung für die Welt machen die Vergebung zu einem Schlüssel für ein glaubwürdiges Leben. Das ist eine bleibende Spannung, der auch Luther durch seine politische Einflussnahme erlegen ist.
Durch die reformatorische Ablehnung bisherigen kirchlichen Rechts und der Kirche als Rechtsgemeinschaft (man denke an die Verbrennung von Texten des Corpus Iuris Canonici durch Martin Luther), stellte sich die Frage neu, welches Recht denn nun gelten sollte. Der Kirchenrechtler Michael Mitterhofer (PTH) verfolgt die reformatorische Konsequenz weiter, dass die evangelische Kirche als Heilsgemeinschaft keine Rechtsgemeinschaft sein kann (S.173), das heißt sie braucht kein Kirchenrecht. Diese Ablehnung führte faktisch dazu, dass landesherrliches Recht im Protestantismus „gültig“ wurde. Und mit der Zeit – auch angesichts des Nationalsozialismus – entwickelten sich entsprechende kirchliche Ordnungen. In der katholischen Kirche hielt sich jedoch der Gedanke durch, dass die Gemeinschaft als Gottesvolk in der Gemeinde und die gleichzeitige Teilhabe an der Gesamtkirche eine eigenständige “rechtliche Relevanz“ haben (S. 181). Dies dürfte weiterhin ein Anstoß im ökumenischen Gespräch bleiben.
Im Zusammenhang der vielen Veröffentlichungen zum Reformationsjahr kam auch immer wieder Luther als Mystiker zur Sprache. Der Philosoph Markus Moling (PTH) bezieht sich besonders auf den Einfluss des Dionysius Areopagita auf Luther. Das heißt, es geht auch um den neuplatonischen Einfluss auf die reformatorische Theologie. Luther selbst hält den Areopagiten für schädlich, obwohl der Reformator die platonische Philosophie nicht kritisiert. Vielmehr zeigen selbst Luthers Schlüsselbegriffe – der unfreie Willen, der verborgene und offenbare Gott – eine Haltung von Distanz und Nähe zu Dionysius.
Zwischendurch wird es praktisch: Der Pastoraltheologe Alexander Notdurfter (PTH) spricht die Reformprojekte der Diözesansynode Bozen-Brixen von 2013–2015 an. Angesichts tiefgreifender Umbrüche müssen auf der Basis des Vertrauens manche Experimente zum Normalfall werden und weiterhin kirchenpolitische Entscheidungen getroffen werden. Zuvor ist jedoch ein intensiver Kommunikationsprozess nötig.
Die Schluss-Beiträge nehmen noch einmal zentrale reformatorische Impulse auf: Die Neutstamentlerin Maria Theresia Ploner (PTH) wagt im Anschluss an Martin Luther eine „gesamtbiblische Kardiologie“. Sie sieht mit Überlegungen zum Herzen als dem menschlichen Zentrum des Fühlens und Wollens ein unmittelbares Gottesverständnis nahekommen. Dies lässt sich auch mit der in Auschwitz ermordeten Jüdin Etty Hillesum sagen. Im menschlichen Herzen realisiert sich die Begegnung mit Gott positiv oder negativ (S. 219). Es wird im biblischen Sinne zum “Memorialort der Weisung Gottes, damit der Mensch sein Leben bewältigen kann“ (S. 220).
In durchaus ähnliche Richtung geht der Systematiker Markus Schmidt SJ (Universität Innsbruck), wenn er Martin Luther als leidenschaftlichen Gottsucher beschreibt. Der junge Luther wird in des Wortes doppelten Sinn vom Blitz erleuchtet (durch das Erlebnis des Gewitters in der Nähe von Erfurt). Das führte ihn im Kontext seiner religiösen Erfahrung zur Auseinandersetzung mit der römischen Kurie und bedauerlicherweise auch zum Bruch mit der „alten“ Kirche, und zwar um des Evangeliums willen. Die (katholische) Kirche zwischen Mittelalter und Neuzeit hätte ihn dringend gebraucht. Die Kirchenspaltung ist Schuld beider Seiten, denn sie zeugt von der Unfähigkeit aller Beteiligten, „Konflikte konstruktiv auszutragen“ (S. 231). Der ökumenische Friedensgeist des Nikolaus von Kues hätte hier vielleicht gut getan ...
Im Zusammenhang theologischer Kapitalismuskritik hat es auch der letzte Beitrag des Sozialethikers  Michele Tomasi (Theologischen Akademie Brixen) in sich. Er nimmt die Wirtschaftsethik von Max Weber gewissermaßen als Ankerpunkt. Von dort stellt er den Geist des gegenwärtigen globalen Kapitalismus der göttlichen Gnade gegenüber. Sie nötigt zu einer Revision des theologischen Denkens in Hinsicht auf eine vielfältige Gesellschaft („un pensiero teologico rivolto alla società“, S. 247), die sich der Komplexität der Wirklichkeit bewusst ist. Diese Revision nötigt zur Abkehr von Profit- und Gewinnmaximierung hin zu einem Geist freier Menschlichkeit als (Gottes-)Geschenk und zugleich offen zur Transzendenz.
Bilanz: Eine katholische reformoffene Vielgestaltigkeit tritt den Lesern in diesem Band der Brixener Hochschule entgegen, eine wahrhaft ökumenische Haltung, die in der Pluralität von Kirchen offenbar viele Impulse für die eigenen krichlichen Veränderungen wahrnimmt und damit über Konfessionsgrenzen hinweg den Ruf ernst nimmt: Ecclesia semper reformanda. Die Kirche braucht eine immerwährende Reform. Dies ist heute nötiger denn je zu betonen !
Reinhard Kirste
Rz-Reformation-Brixen, 01.01.18 

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