Montag, 16. Mai 2016

Zwischen Istanbul und Mexiko - Globale Weltsichten im 16./17. Jahrhundert

Serge Gruzinski: Quelle heure est-il là-bas ?
Amérique et islam à l'orée des Temps modernes.
--- Wie spät ist es dort? Amerika und der Islam am Beginn der modernen Zeiten ---
Collection: L'Univers Historique. Paris: Seuil 2008, 227 pp. --- ISBN 978-2-02-098577-2 ---
Interkulturelle Verbindungen machen für den Historiker und Direktor des CNRS (Centre National de la Recherche Scientifique (= Nationales Zentrum für wissenschaftliche Grundlagen-Forschung) einen wesentlichen Teil seiner Arbeit aus. Mit dem Übergang von der islamischen Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel zu den katholischen Königen und der christlichen Eroberung der Neuen Welt verändern sich die Sichtweisen. Kaiser Karl V. (1500–1558) war schließlich Herrscher eines Reiches, in dem die Sonne nie unterging! Interessanterweise aber blickt auch das Osmanische Reich in dieser frühen Phase der Globalisierung nicht nur an die Ränder des Mittelmeeres, sondern bis nach Amerika. Die zunehmende Bedeutung der Iberischen Kolonialreiche macht aber zugleich die Sichtweisen von dort auf das „alte“ Europa spannend.

Interessanterweise beruht die inhaltliche Motivation dieses Buches auf dem 2001 in Taiwan entstandenen Film Wie spät ist es denn dort? Der bekannte Regisseur Tsai Ming-liang lässt hier eine besondere Schicksalsgeschichte dreier Menschen Revue passieren. Der Film ist zugleich eine Hommage an François Truffaut. Seinen Filmen wohnt ja die Tendenz inne, Menschen zu thematisieren, die quasi zur Einsamkeit und Sprachunfähigkeit verdammt sind. In „Wie spät ist es denn dort?“ von Tsai Ming-liang trauert eine Frau in einer verdunkelten Wohnung um ihren Mann; ihr Sohn Hsiao verkauft in den Straßen von Taipeh Uhren; seine Kundin Shiang-chyi kommt als Touristin nach Paris und findet dort keinerlei Kontakt. Alle drei Akteure scheinen in ihrer je eigenen Zeitzone fest eingeschlossen zu sein. Doch seltsamerweise gibt es dazwischen trotz dieser „Mauern“ und Distanzen Übereinstimmungen und „Fügungen“. Das geschieht z.B. als Hsiao in Taipeh Truffauts Film "Sie küssten und sie schlugen ihn" (Les Quatre Cents Coups, 1959) sieht. Und etwas später begegnet Shiang-chyi auf einem Pariser Friedhof dem Hauptdarsteller dieses berühmten Films der „Nouvelle Vague“ … (vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Nouvelle_Vague)
Wenn Serge Gruzinski nun zwei fast zeitgleiche Dokumente vom Ende des 16. und dem Anfang des 17. Jahrhunderts nebeneinander stellt, dann signalisiert er damit die Aktualität von Fremdheit, Abgrenzung einerseits und die Zeitzonen übergreifende Wissensbegierde andererseits.
Das erste Dokument, eine bebilderte (türkische) Chronik des Neuen Indien (Geschichte Westindiens), wurde 1580 in Istanbul von einem Anonymus redigiert. Es ist erstaunlich, wie viele Details der Eroberungsgeschichte Amerikas hier wiedergegeben werden. Der uns weiter nicht bekannte Autor stand wahrscheinlich in den Diensten des Großwesirs. Der Text ist zuerst als Manuskript überliefert. Der Druck erfolgte nicht vor 1730, weil im Osmanischen Reich die Druckkunst relativ spät (18. Jh.) Eingang fand. Der Schreibstil des Anonymus trägt durchaus imperiale Züge im Sinne seiner Auftraggeber. Das ist auch verständlich, denn den „Türken“ gelingt es im 16. Jh., Teile des Mittelmeeres und die gesamte Südküste unter ihre Kontrolle zu bringen und bis an den Rand von Wien vorzudringen (1529). Aber auch der Eroberungsblick in den Fernen Osten bleibt typisch für die Sultane, obwohl an der Grenze zu Persien, das Safawidenreich den Türken erhebliche Probleme machte.
Das zweite Dokument stammt von Heinrich Martin, einem Drucker aus Hamburg. Er war ursprünglich lutherischer Konfession, wandte sich dann aber dem Katholizismus zu. Seine „Horizonterweiterung“ geschieht durch Reisen und Aufenthalte in Ostpreußen (damals unter polnischer Lehenshoheit), Litauen, Paris und dann besonders in Sevilla. Schließlich tritt er als Kosmograph in die Dienste der Katholischen Könige, die die „Reconquista“ konsequent betrieben. Großmachtgelüste bis hin nach China sieht er quasi als legitim an; und die Bekämpfung des „Islam“ gilt als überregionale Aufgabe. In Amerika trifft er übrigens auf ein Islambild, das die spanischen Eroberer und Kolonisatoren prägten und das sich in Kampfspielen von den Christen gegen die Mauren (interessanterweise nicht gegen die Türken!) zeigte. Gewissermaßen wurde die Kreuzzugsidee von der Eroberung Jerusalems neu inszeniert oder geradezu biblisch-apokalyptisch der türkische Sultan als der „Große Sultan Babylons“ apostrophiert.
Was angesichts solcher Differenzen jedoch nicht zu übersehen ist: Der Mann aus Istanbul und der Norddeutsche sind geprägt von der Neugierde an den „anderen“. Sie blicken recherchierend „nach dort“, um zu dokumentieren, was an den östlichen oder westlichen politischen Knotenpunkten des Atlantiks bzw. des Mittelmeers geschieht. Nachdem Heinrich Martin im königlichen Auftrag als Kosmograph nach Mexiko entsandt worden war, veröffentlichte er dort 1606 ein „Sachregister der Zeiten“ (Répertoire des temps). Zwei Kapitel beschäftigen sich ausdrücklich mit dem „Türkischen Großreich.“
So unterschiedlich die beiden Verfasser auch sind – der eine Muslim, der andere Christ – so nehmen sie außerdem das gemeinsame Erbe der Mittelmeergeschichte für sich in Anspruch, nämlich die Philosophie des Aristoteles und die Geografie des Ptolemäus aus Alexandria. Die geistige Metropole Antwerpen, inzwischen die „Tochter“ des antiken Alexandria. Leider verliert sie ihren Glanz im Zusammenhang des Aufstandes der protestantischen Niederlande gegen die spanische Herrschaft (1568-1648). Der Geograf und Kartograf Abraham Ortelius hatte im Jahre 1570 noch sein „Theater der Welt“, herausgebracht, ehe der spanische Statthalter die Stadt 1585 (wieder) eroberte (vgl. S. 87–97). Die Weltdarstellung des Ortelius blieb allerdings europazentriert. Das sieht Heinrich Martin bereits umfassender. Und Ähnliches gilt für den anonymen Schreiber am Hof des Sultans.
Die geistigen Schübe der Renaissancezeit führen beim Muslim wie beim Christen zur Herausforderung, die Welt historisch, (religions-)politisch und geografisch umfassend darzustellen. Nach dem Alexandria der Antike und dem Antwerpen der Renaissance stehen wiederum zwei Städte im Mittelpunkt. Sie haben durch Welt verändernde Eroberungen eine neue Struktur gewonnen und repräsentieren damit „neue Welten“: Istanbul, das Zentrum des zur Weltmacht aufgestiegenen Osmanischen Reiches mit damals fast 400.000 Einwohnern. Und Mexiko wird dominierende Hauptstadt des amerikanischen Kontinents mit bereits über 100.000 Bewohnern.
Obwohl weder der Anonymus noch Heinrich Martin die Länder des anderen je gesehen hat, entwickeln sie in ihren Beschreibungen einen globalen Horizont. Sie denken bereits die „eine Welt“, wie unterschiedlich auch die jeweiligen geschichtlichen, religiösen und kulturellen Ausprägungen sowie die politischen Interessen ihrer Auftraggeber gewesen sein mögen. Man muss schließlich immer mitbedenken: Die geschichtlichen Umbrüche im Mittelmeerraum seit dem Ende des 15. Jahrhunderts haben zwar ein Klima verschärfter Spannungen und Feindseligkeiten erzeugt. Absolutheitsansprüche des Glaubens wie der Macht können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Iberische Halbinsel 800 Jahre von islamisch-arabischer Kultur geprägt wurde und die Vertreibung von Juden und Muslimen aus Spanien keineswegs diese Kultur zum Erlöschen brachte. Vergleichbares gilt für das noch weithin christliche Vorderasien und den Mittleren Osten.
Bilanz
Was das Buch außer den historischen Vergleichen so spannend macht, ist die damals in den Vordergrund tretende Sichtweise der Globalisierung, auch wenn erst die Moderne diesen Begriff geprägt hat. So nimmt die Frage: "Wie spät ist es dort?" herausfordernde Züge an. Zwei Welten begegnen sich – die islamische und die christliche. Sie sind spannungsgeladen getrennt und doch auf eigenartige Weise miteinander in gleichzeitiger Kommunikation verbunden. Es eröffnen sich geradezu planetarische Horizonte (besonders eindrücklich in Kap. 6: „Die Geschichte der Welt ist in den Himmeln eingeschrieben“). Man könnte sogar an den von C.G. Jung eingebrachten Begriff der „Synchronizität“ denken und fragen, ob „unterhalb der Ebene des kollektiven Bewussten … etwas vorhanden ist, das über den Geist hinausgeht, ein fundamentales dynamisches Ordnungsprinzip.“
(F. David Peat: Synchronizität. Die verborgene Ordnung.
Aus dem Amerikanischen. Von Gerhard Geerdts.
     

Bern u.a.: Scherz für O.W. Barth  1989, S. 124)
Die Rezension von Grunzinskis Buch in Le Monde vom 30.10.2008 hat dessen Intention präzise benannt: Europa, Amerika und der Islam bewegen sind in engen Korrelationen. Es ist „das >Dreieck der Renaissance<, aus dem ein einziges Bild der Welt hervortritt. In der Sichtweise der „Welt-Ökonomie“ des [Historikers] Fernand Braudel (https://de.wikipedia.org/wiki/Fernand_Braudel) inkarniert sich ein „Weltbewusstsein“, ein Gefühl, demselben Planeten anzugehören und an denselben Gesichtskreisen teilzuhaben. Die These [des Autors] ist ehrgeizig, und erinnert an die grundlegenden Herausforderungen der globalen Historie. Im Vergleich und in der Konfrontation geht die Suche zu den Wurzeln einer Geschichte, die sich nicht auf das Verhältnis des Westens mit dem Rest der Welt beschränkt: Es ist eine global history, die heute in den angelsächsischen Universitäten eine großartige Entwicklung findet, während sie in Frankreich nur mühsam zum Vorschein kommt.“ (eigene Übersetzung)  
So gelingt es Gruzinski – beeindruckend detailreich und doch präzise durchstrukturiert – das christlich-islamische Umbruchsfeld des 16./17. Jahrhunderts vorzustellen. Hier tritt die Unabweisbarkeit globalen Denkens und Handelns ins Zentrum – gewiss (noch) mit seltsamen Verzerrungen. Dennoch lässt sich „von dort“ viel für heutige Sichtweisen lernen, um die Chancen umfassender nicht-imperialer Grenzüberschreitungen besser zu nutzen. Übersetzungen ins Englische (Polity Press), ins Spanische (Fondo de Cultura Mexiko) und ins Portugiesische (Brasilien) sind bereits erfolgt. Eine chinesische Übersetzung ist in Arbeit ! Da wäre endlich auch eine deutsche Übersetzung angesagt !

Reinhard Kirste
 Rz-Gruzinski-Neue Welt, 14.05.16 

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