Samstag, 28. Juli 2012

Das Institut Kirche und Judentum in Berlin auf dem Weg zur Neubestimmung des christlich-jüdischen Verhältnisses


Markus Witte und Tanja Pilger (Hg.): Mazel tov
Interdisziplinäre Beiträge zum Verhältnis von Christentum und Judentum
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Studien zu Kirche und Israel, Neue Folge (SKLNF), Bd. 1    
Festschrift anlässlich des 50.Geburtstages des Instituts Kirche und Judentum      
Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012, 581 S., Register
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ISBN 978-3-374-03012-5 ---      


Ausführliche Besprechung: 
1960 wurde an der damaligen Kirchlichen Hochschule in Berlin-Zehlendorf das „Institut Kirche und Judentum“ gegründet. Von 1883 bis 1956 gab es an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen Humboldt-Universität, das „Institutum Judaicum Berolinense“. Das 50jährige Bestehen des Instituts Kirche und Judentum – nach Integrierung der Kirchlichen Hochschule in die Humboldt-Universität nun ein Teil derselben, war Anlass für ein Jubiläumssymposium, aus dem dieser umfassende Band erwuchs.          
Der Alttestamentler und gegenwärtige Leiter des Instituts Kirche und Judentum, Markus Witte, und seine Mitarbeiterin Tanja Pilger haben daraus eine Festschrift zusammengestellt, in der sich renommierte Bibelwissenschaftler, theologische Systematiker, Judaisten, Kirchenhistoriker, Kunstgeschichtler (die meisten von der Humboldt-Universität = HU) zu Grundfragen und zur Ambivalenz christlich-jüdischer Begegnung quer durch die Jahrhunderte äußern. Sie gehen systematisch und (theologisch) aktualisierend vor und ziehen immer wieder jüdische und christliche Quellentexte heran, aber auch eindrückliche christliche Bilddokumente.


Neben den Laudationes und Grußworten aus christlichem und jüdischem Munde in Kapitel I wird die Fülle des Materials durch die Strukturierung in exegetische Beiträge, historische Beispiele bis zur Gegenwart, kunstgeschichtliche Besonderheiten und Theologisches zum Gottesverständnis sowie ausgewählten Predigten (mit einem kritischen Anmerkungsbeispiel) gebündelt. So ist ein Kaleidoskop von Themen entstanden, das den Facettenreichtum des christlich-jüdischen Dialogs zum Ausdruck bringt, zu dem das Berliner Institut einen wichtigen Beitrag seit über einem halben Jahrhundert leistet. Dieser teilweise disparaten Fülle kann nicht im Einzelnen nachgegangen werden, so dass die Schwerpunktsetzungen des Rezensenten natürlich subjektiv geprägt sind.
Die fünf Exegetischen Beiträge des Kapitels II sprechen Spannungsfelder der Bibelauslegung an. Mit einem alttestamentlichen Schlüsseltext zur Nächstenliebe und der darin zugrunde liegenden Gemeinsamkeit mit dem Verständnis Jesu (im Blick auf Leviticus 19) beginnt Matthias Köckert (HU). Demgegenüber steht eine grundsätzliche Debatte, die Rüdiger Liwak (HU) an der Forderung nach einer eigenständigen jüdischen Bibelwissenschaft herausstellt, wie sie der liberale jüdische Bibelwissenschaftler Benno Jacob (1862-1945) forderte. Dabei sah dieser kaum eine Chance, mit christlichen Bibelwissenschaftlern auf dieselbe Diskursebene zu kommen. Anselm C. Hagedorn (HU Berlin) vergleicht die Hohelied-Interpretationen und Anklänge zweier berühmter und zugleich politisch engagierter Künstler Griechenlands: Den Gedicht-Zyklus „Mauthausen“ von Iakovos Kambanellis (1922–2011) und dessen Vertonung von Mikis Theodorakis (geb. 1925). Rainer Metzner (Universität Leipzig) untersucht an der Jesus-Tradition, an Paulus und dem 1. Petrusbrief unter Schwerpunktsetzung auf Markus 10,26 die Spannung zwischen eschatologisch-apokalyptischem Dualismus und Tendenzen einer Allversöhnung. Schließlich geht Christine Zimmermann (HU) der verbindenden und dennoch abgrenzenden Interpretation von der Kirche als dem neuen Israel im Galaterbrief und weiteren Textstellen der Paulusbriefe nach.
Im wesentlich umfangreicheren Kapitel III: Historische Beiträge stellt Reinhard Flogaus (HU) christliche Texte in hebräischer Sprache aus dem 15./16. Jh. vor (mit Bildbeispielen). Das Verhältnis von Pietismus und Judentum spricht Johannes Wallmann (Ruhruniversität, Bochum) an. Durchaus auch anerkennende jüdische Einstellungen zur Lutherrezeption im 19. Jh. diskutiert Dorothea Wendebourg (HU). Die Schieflage der gesamten Konversionsproblematik im 19. Jh. am Beispiel der Familie Mendelssohn Bartholdy bringt Karl-Heinrich Lütcke (Vorsitzender des Kuratoriums des Instituts Kirche und Judentum, Berlin) zur Sprache. Die Bedeutung jüdischer Philosophie, ebenfalls im 19. Jh., würdigt Yehoyada Amir (Hebrew Union College, Jerusalem). Ferner wird die christliche Palästinawissenschaft an Gustav Dalman (1845–1941) und am jüdischen Forscher Joseph Gedalja Klausner (1874–1958) gewissermaßen über gegenseitige Buchwidmungen gespiegelt (Thomas Willi, Universität Greifswald). Dann wird es ortskundlich konkret im Blick auf die Mayersche Lehrsynagoge in Greifswald –jüdisches Museum oder Lehrschriftensammlung? (Christfried Böttrich, Universität Greifswald). Folkert Seigert (Universität Münster) hebt unter Hervorhebung des Gedankens vom „ungekündigten Bund“ den konsequenten Abschied von der Judenmission durch das Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster hervor.
Hartmut Ludwig (HU) zeichnet das Bild von Helene Jacobs (1906–1993) nach – in ihrem Widerstand gegen den Nationalsozialismus und ihrem Engagement für die Judenrettung. Die St. Annen-Kirche in Berlin-Dahlem spielte dabei eine zentrale Rolle im Zusammenhang der Bekennenden Kirche. Diese damals gemachten Erfahrungen führen nach dem 2. Weltkrieg dazu, die allgemeine humane Solidarität durch die christlich-jüdische Solidarität zu vertiefen. Einen der wichtigen Annäherungsschritte bildete die Gründung der Arbeitsgruppe „Juden und Christen“, die sich zum ersten Mal auf dem Ev. Kirchentag in Berlin 1961 vorstellte. Sie blieb allerdings auch nach ihrer Konstituierung als „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag“ eine von Krisen geschüttelte christlich-jüdische Gruppierung. Der kontinuierliche Wegbegleiter seit der Dahlemer Zeit war übrigens der Theologe Helmut Gollwitzer, der die christliche Solidarität für die jüdische Seite gerade im gemeinsamen Lesen der Bibel immer wieder einforderte.
Der frühere Leiter des Instituts Kirche und Judentum, Peter von der Osten-Sacken (HU), zeigt umfassend auf, wie diese Einrichtung in ihrer (Forschungs-)Arbeit die Solidarität mit dem jüdischen Volk besonders zum Ausdruck bringen wollte und will. Rainer Kampling (FU Berlin) nimmt diesen Impuls auf, die theologischen Wurzeln des Antisemitismus zu beseitigen. Er legt das so an, dass die eigene christliche Auslegung der kanonischen Schriften nur mit einem „Besitzverzicht“, also einem Verzicht auf Deutungshoheit einhergehen kann. Denn Besitzen signalisiert eine Störung des Gottesverhältnisses. Jonathan Magonet (bis zur Emeritierung Direktor des Leo-Baeck-Colleges, London) reflektiert beeindruckende Ergebnisse des neuen dialogischen Umgangs von Juden und Christen anhand der viele Jahre in Deutschland durchgeführten jüdisch-christlichen Bibelwochen.
Die kunstgeschichtlichen Beiträge in Kapitel IV nehmen das heikle Thema der Darstellung von Juden und Judentum unter christlich-heilsgeschichtlichen Gesichtspunkten auf. Es sind allerdings nur drei, allerdings ausgesprochen bemerkenswerte Beispiele: Gerlinde Strohmaier-Wiederanders (HU) sieht sich die Darstellung von Juden in der St. Maria-Magdalena-Kirche Greifswald genauer an und wundert sich über das aus diesem Gesamtrahmen fallende Judenkapitell. Eindeutig polemisch antijüdisch geht es beim Göttinger Barfüßer-Altar von 1424 zu, wie Michael Brocke (Universität Düsseldorf) beschreibt. Erstaunlich dagegen sind mexikanische Wandmalereien aus dem 16. Jahrhundert, die den Einzug der Synagoge vor der Kirche ins neuentdeckte Amerika zeigen und heilgeschichtlich die indigenen Völker (trotz späterer kirchlicher Verbote) dem „Alten Bund“ und damit dem Judentum zuordnen und die nicht-christlichen sibyllinischen Verheißungen auf den Erlöser mit einbeziehen (Margit Kern, FU Berlin). Für die zum Verständnis wichtigen Fotos hätte man sich allerdings eine bessere Qualität bei allen Beiträgen gewünscht.
Kapitel V präsentiert systematisch-theologische Beiträge. Rainer Hauke (HU) ringt sich schließlich zur Erkenntnis durch, dass Juden und Christen an denselben Gott glauben, die Erkenntniswege aber unterschiedlich sind – und der „Gottmensch“ (sic!, S. 470) Jesus Christus konstitutiv für das Christentum und in Abgrenzung zum Judentum bleibt. Das nächste Spannungsfeld umschreitet Notger Slenczka (HU) im Blick auf die Trinitätslehre, deren Anstößigkeit für das Judentum auf der Hand liegt. Er bezieht sich zuerst auf die Position des Wuppertaler Theologen Berthold Klappert, der im Sinne einer christlichen Auslegung des Namens des Gottes Israels eine (christliche) Neubestimmung der Identität Gottes in seinem geschichtlichen Handeln erlaubt. Es ist eine Identitätsbestimmung – so meint Slenczka dann, die „zwischen Stall und Kreuz in dem Gott Israels selbst begründet ist … Die ausgeführte Trinitätslehre hält dabei fest, dass es sich bei dieser Identitätsbestimmung nicht um einen Willkürakt des Menschen, sondern um eine Selbstdefinition Gottes handelt“ (S. 487). Angesichts dieses metaphysischen Höhenfluges kann er dann die bleibende Differenz zum Judentum festhalten. Ob das wirklich dialogisch weiterhilft, muss allerdings bezweifelt werden. Der religionsphilosophisch begründete ethische Universalismus von Hermann Cohen (1842–1918) kommt dann wieder stärker auf den Boden religiöser und ethischer Annäherungen von Judentum und Christentum zurück. Friedrich Lohmann (Bundeswehrhochschule München) zeigt in diesem Beitrag, wie Cohen auf die ethischen Ressourcen der Religionen zurückgreift, die letztlich eine unteilbare Ganzheit bilden (S. 490). Hier erlebt man bereits den beeindruckenden Versuch einer Aussöhnung der Kulturen, die in der Konkretisierung des Liebesgebots, einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Zionismus und in dem universalen Verständnis gipfelt, nämlich dass die eine Menschheit (nur) Einen Gott hat, von dem sich keinerlei „Bild“ machen lässt. Schließlich zeigt Wolf Krötke (HU), wie stark Dietrich Bonhoeffer von den jüdischen Psalmen her lebte und sie im Beten, Meditieren und Auslegen faktisch zur inneren Lebensmitte machte, allerdings – wie der schwer auszuräumende Vorwurf lautet – im Sinne einer christlichen „Hypostasierung“ alttestamentlicher Texte (S. 513). Wie dem auch sei, der Anstoß auch für Christen, mit den Psalmen zu leben, hat jenseits der Kritik an Bonhoeffer weiterhin seine Berechtigung.
Was sich im Bonhoeffer-Aufsatz bereits als Impuls für eine christliche Spiritualität andeutet, findet nun im Kapitel VI: „Predigten und ihre Reflexionen“ beispielhafte Realisierungen. Man könnte dieses Kapitel auch überschreiben: „Das andere Predigen“. Martin Stöhr (Universität Siegen) nimmt die biblische Sodom- und Gomorrha-Erzählung (1. Mose 18,20-33) als Beispiel menschlicher Humanität auf, die im „Handel(n) mit Gott“ kulminiert, denn „Menschen werden gerettet, wenn Einzelne oder eine Minderheit sich mutig weigern, sich der Überheblichkeit, der Sattheit oder einer ruhigen Gleichgültigkeit anzupassen“ (S. 534). Einen ungewöhnlichen Predigttext hat Hermann Lichtenberger (Universität Tübingen) ausgewählt: 2. Makkabäer 10,1-8, um in seiner Predigt den christlichen Advent mit dem Chanukka-Tempelweih-Fest zu verbinden. Der Herausgeber Markus Witte nimmt in seiner Predigt zur Bundesschluss-Ansage des Jeremia (31,31-34) Anklänge an den Fußball auf, indem er von dem Vierklang Jeremias redet: „die Tora im Herzen, auf Gott bezogen, Gott erkennen, die Sünde vergeben – das ist mehr als Weltmeister sein“ (S. 547). Da erscheint für die christliche Aktualisierung „Jesus selbst als Gottes Tora“ (S. 548). Nicht christlich harmonisierend, sondern kritisch prüfend, zeigt Thomas Wabel (HU) an Martin Luther, wie Predigten zur Instrumentalisierung benutzt wurden und werden, um sich christlich gegenüber dem Judentum in der eigenen Identität zu stabilisieren („Überheblichkeit der Demut“). Ein „Klassiker“ ist dafür das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (Lukas 18,9-14), der jüdische Werkgerechtigkeit am Pharisäer festmacht und dagegen das christliche Evangelium ausspielt. Durch Überwindung der Typisierungen lassen sich aber alternative Möglichkeiten des Christ- und Menschseins aufzeigen (S. 568f).
Bilanz: Sieht man einmal von den Grußworten der jüdischen Vertreter (Hermann Simon, Walter Homolka und den jüdischen Textbeiträgen ab (Yehoyada Amir, Michael Brocke, Jonathan Magonet), so spiegelt sich in den Ausführungen eine überwiegend christliche Debatte im Kontext ursprünglicher und problematischer Abgrenzung vom Judentum. Christlich-jüdische Begegnung findet – besonders nach dem Nationalsozialismus und der Shoah – unter dringend notwendig gewordenen veränderten theologisch-heilsgeschichtlichen Voraussetzungen statt. Die Spannbreite der Beiträge reicht dabei von der kritischen Betrachtung judenfeindlicher Stereotypen, über weiterhin theologisch-abgrenzende Dialogversuche bis hin zur generellen Neubestimmung des Verhältnisses zum Judentum. Eine wichtige Herausforderung bilden dabei auch jüdische Vordenker wie Hermann Cohen und christlich geprägte Einrichtungen wie das Institut Kirche und Judentum, dem diese Festschrift in ihrer Vielfältigkeit zu Recht gewidmet wurde. 
Das Institut wird weiterhin viel Besonnenheit, aber auch viel Glück („Mazel tov“) bei diesem dialogischen Handeln gebrauchen können.
Reinhard Kirste
 Rz-Mazel tov, 28.07.12

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