Mittwoch, 1. Juni 2016

Buch des Monats Juni 2016: Veränderungsgestalten des Religiösen

Cover: Salvador Dalí - Simulacrum
of the feigned Image 
Abbild - eines scheinbaren Bildes
Franziska Metzger / Elke Pahud de Mortanges (Hg.):
Orte und Räume des Religiösen im 19.–21. Jahrhundert.

Paderborn: Schöningh 2016, 252 S., Abb.
 --- ISBN 978-3-506-77930-4 ---

Religion zeigt sich auf vielfache Weise, sofern man sich nicht auf einen zu engen Religionsbegriff einlässt. Das vorliegende Buch beschäftigt sich darum mit unterschiedlichen Annäherungen an das Religiöse. Dabei spielen die klassischen Orte wie Kirchen, Moscheen und Tempel allerdings nur eine Nebenrolle. Vielmehr geht es darum, die „Kathedralen der Moderne“ genauer zu untersuchen, die von ihrem Selbstverständnis nicht religiös sind
 – man denke etwa an die Kunst und den Fußball. Diese „sind aber faktisch eine Art >Religion im Erbe< im Sinne eines Transfers. In ihnen und durch sie werden Prozesse der Aneignung, Konversion und Transformation in Gang gesetzt“ (S. 7). So werden reale, gestaltete Räume vorgestellt: Museen, Gärten, Fußballstadien, aber auch (veränderte) Kirchenräume. Hinzu kommen „imaginierte Räume“, die durch “literarische Texte und visuelle Artefakte entstehen“ (S. 7). Schließlich kommt noch die Darstellung des Körpers in möglichen religiös-sakralen Zusammenhängen zur Sprache. Einige Schwarz-Weiß-Bilder im Buch versuchen das Diskutierte auch optisch zu verdeutlichen.



Im 1. Teil geht es um gestaltete Orte und Räume des Religiösen.        


Der Kulturwissenschaftler Stefan Laube (Humboldt-Universität Berlin) bezieht sich auf (quasi-)religiöse Objekte und ihre Präsentationsgeschichte im Museum, in der Kirche und in der freien Natur. Er erläutert dies an drei Beispielen, dargestellt an der Skulptur „Betender Knabe“ (3. Jh. v. Chr.), Emil Nolde: „Tanz um das Goldene Kalb“ (1910), Robert Smithson: „Non-Sites“, besonders „Spiral Jetty“ in einem Salzsee von Utah (1968/1971). Insgesamt spielt der Zusammenklang von „Kultwert und „Ausstellungswert“ (S. 17) eine entscheidende Rolle: Umgebung bringt Veränderung, Konversion. Das zeigen diese „raumgreifende Kunstwerke und ihre sakralen Potenzen“. Laube endet mit der Wirkung von Lichtinstallationen, die Energie und Materie zugleich erfahren, Raumgrenzen schwinden und Transzendenz erahnen lassen.   
Ilonka Czerny, Kunsthistorikerin und Mitarbeiterin am Museum für Moderne Kunst in Frankfurt/M., zeigt, wie Sakralräume als Orte der Kunst in einen neuen Horizont einbezogen werden. Dies geschieht aber auch umgekehrt: Orte für Kunst entwickeln die Sphäre von Sakralräumen: Museum als Funktion von Kirche 
(S. 45). Die herangezogenen Beispiele verdeutlichen, welche erstaunlichen Synergieeffekte auf diese Weise zwischen Kunst und (Sakral-)Raum entstehen können.               
Auf einen anderen Raum, den Garten, kommt der Religionswissenschaftler Jürgen Mohn (Universität Basel) zu sprechen. Der Garten als religiöser Wahrnehmungsraum erhält in Europa seine Bedeutung erst durch die „Inszenierung“, etwa als Paradiesgarten in der biblischen Heilsgeschichte. Der Garten ist ja nicht per se heilig (S. 61). In ihm befindet sich in nuce die „Totalität der Welt“ (Michel Foucauld, S. 62). 
So versteht der Autor (mit Foucauld) Gärten als Heterotopien, m.a.W.: Gärten reflektieren auf besondere Weise gesellschaftliche Verhältnisse, verneinen diese oder wollen ein Gegenbild inszenieren. Der Gartenbesucher betritt faktisch eine andere Welt. Die Gartenanlagen von Renaissance und Barock signalisieren zugleich Denk- und Handlungsmuster der Herrscher, die sie anlegen ließen. Sie wirken gewissermaßen „zivilreligiös“ auch auf die heutigen Besucher, ebenso wie die Landschaftsgärten des 18. und 19. Jahrhunderts. Hier entsteht der „Idealgarten“, der auch ein nationales Sinnsystem inszeniert, eine Art Nationalmythologie mit den Insignien zwischen der Ehrenpforte des Paradieses Karl dem Großen und Martin Luther.           
David Neuhold (Universität Freiburg, CH) und Leopold Neuhold (Universität Graz) verweisen auf die religiösen Elemente, die den Fußball „vergöttlichen“ und damit zu einer Ersatzreligion machen. Das Stadion mit seinem „heiligen Rasen“ wird zum sakralen Ort, den die Fußball-Pilger zu den entsprechenden „heiligen“ Schauspielen  aufsuchen. Kapellen in Fußballstadien sind für die Kirche ein Hinweis darauf, dass Sport nicht alles ist, aber doch hohe gesellschaftliche Relevanz besitzt (S. 93f).
Mariano Delgado (Universität Freiburg, CH) setzt sich als Kirchenhistoriker und Missionswissenschaftler mit dem ausgeprägten christlichen Missionierungsverständnis und dessen problematischen Auswirkungen im Zusammenhang der Kolonialisierung auseinander. Er versteht wohl „Mission“ als eine Art Gestaltungsraum des Religiösen, ohne dies ausdrücklich zu benennen. Dabei versucht er die Brüche zwischen Religion und (moderner) Kultur durch die Entwicklung einer Hermeneutik des Dialogs zu überwinden. Die inklusive Vereinnahmung der anderen Religionen ist jedoch noch immer beherrschend. Darum fordert Delgado, dass Mission und interreligiöser Dialog nur unter den Bedingungen der Religionsfreiheit möglich sein sollten, auch wenn gerade islamische geprägte Staaten diese faktisch einschränken. Der Raum des Religiösen wird dabei allerdings nicht angesprochen.
Der 2. Teil – Imaginierte Räume des Religiösen – beleuchtet „Vorstellungen“ im Theater und im Film.
Der Literaturwissenschaftler Dimiter Daphinoff (Universität Freiburg, CH) zeigt an T.S. Eliots Drama „Mord im Dom“ und an G.B. Shaws „Heiliger Johanna“, wie ein Konflikt entsteht, nämlich weil die Protagonisten Thomas Becket und Jeanne d’Arc ihr Handeln durch göttliche Weisung begründen. Sie stellen damit die Deutungshoheit der Kirche in Frage. Der sakrale Raum wird nun auf der Theaterbühne nachgestellt – mit der Intention bei Eliot, den Weg des christlichen Glaubens zu empfehlen. G.B. Shaw dagegen will zeigen, wie aus einer Häretikerin eine Heilige wird.

Ähnliches führt Joachim Valentin (Direktor des Hauses am Dom, Frankfurt/M.) an Jim Jarmuschs Filmen vor. Diese sind zum großen Teil von Pop-Musik geprägte sog. Road Movies. Der Autor bezieht sich einerseits in seiner Analyse auf Emmanuel Levinas im Blick auf die Andersheit des Anderen. Andererseits folgert er vom Heterotopie-Verständnis Foucaulds her, „dass hier der Raum des Immanenten bis zur Überdehnung erweitert, ja bisweilen in das reich des Wunderbaren ausgedehnt wird“ (S. 145), um so zwischenmenschliche Grenzen zu überschreiten. 
Franziska Metzger ist Schweizer Geschichtsdozentin und Kulturredakteurin (Luzern) sowie Mitherausgeberin des vorliegenden Bandes. Sie bezieht sich auf Bilder von William Blake und John Martin, also auf das 19. Jahrhundert. Die apokalyptische Thematik dieser Maler nimmt Erzählweisen (Narrative) auf, die neue Deutungszusammenhänge eröffnen. Vergelichbares gilt für das Werk von Edmund Burke, der sein Werk „Sublimes“ nach dem Erdbeben in Lissabon von 1755 verfasste. Naturkatastrophe und gesellschaftlich-moralischer Zusammenbruch werden ebenfalls apokalyptisch gesehen. Das bestätigt die sog. Last-Man-Narrative, für die die Autorin schriftstellerische Beispiele aus dem 19./20. Jahrhundert bringt und einen Ausblick in die Gegenwart vornimmt, und zwar zu Aldous Huxley („Island“, 1962) und David Mitchell („Cloud Atlas“, 2004) vornimmt.   
Der Religionswissenschaftler Christopher Partridge, (Universität Lancaster, UK), befasst sich mit der quasi religiösen Verehrung und Mythologisierung verstorbener Berühmtheiten der Popkultur wie Elvis Presley. Es findet sozusagen eine Transzendierung in die Heiligkeit und Unsterblichkeit statt. Dazu kommt eine Transfiguration, die es ermöglicht, über die Fan-Begeisterung hinaus, sich metaphorisch mit dem Verstorbenen zu identifizieren (S. 173). Im Grunde leben in den hier entstandenen Ritualen die Pilgerfahrten des Mittelalters wieder auf, auch wenn sich der Unterschied zwischen Pilger und Tourist keineswegs eindeutig feststellen lässt.

Im 3. Teil geht es um Inszenierte Körper als Orte des Religiösen, etwas unschärfer formuliert: um den Körperkult in seinen unterschiedlichen Ausprägungen.               
Yvonne Maria Werner (Universität Lund) untersucht als Religionswissenschaftlerin Typiken von katholischer Mission des 19./20. Jahrhunderts in Skandinavien. Hier entwickelt sich sozusagen eine geistige Dimension der (Priester-)Männlichkeit, die ihren Ausdruck in der Liturgie findet. Sie baut sich als eine Art Gegenkultur zur protestantisch-nationalen Dominanz auf. Die Rituale der katholischen Liturgie und des Andachtslebens faszinieren offensichtlich so sehr, dass es zu einer Reihe von Konversionen kam. Die liturgische Bewegung der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts ermöglichte zugleich eine Aufwertung der Laien in der Kirche, die besonders in Männeraktivtäten zum Ausdruck kamen, während die Frauenspiritualität auf Haus und Familie fokussiert blieb. Das änderte sich erst behutsam nach dem 2. Vatikanischen Konzil, auch wenn weiterhin nur Männer Priester und Diakone sein können.
Ganz anders behandelt Irene Ulrich (Universität Freiburg, CH) religiöse „Nicht-Orte“. Am Beispiel des heiligen Sebastian zeigt sie Veränderung in den deutenden Sichtweisen: Der nackt dargestellte christliche Märtyrer wird seit dem 19. Jahrhundert in der Literatur sowie der bildenden und filmischen Kunst auch homosexuell codiert: Lustvolles Leiden bis hin zur sexuell-erotischen Fantasievorstellung: Der Homosexuelle identifiziert sich mit dem schönen Märtyrer als Leidender. Im Blick auf AIDS seit den 70er Jahren wird jedoch dieses (utopische) Bild des heiligen Sebastian mit dem Ruin des schönen Körpers konfrontiert, den die Epidemie verursacht.

Zum Schluss geht die Dogmatikerin und Mitherausgeberin Elke Pahud de Mortanges (Universität Freiburg, CH), den veränderten Christusbildern nach. Sie bezieht sich auf die Christus-Heterotopien, wie sie Andy Warhol, und Joseph Beuys sowie Conchita Wurst ins Bild und in Szene gesetzt haben.    
Die Werke von Andy Warhol und Joseph Beuys erhielten in der öffentlichen Sicht oft quasi-religiösen Status. Vom „Bodybuilder“ Jesus bei Warhol geht der Weg über Beuys‘ Kirchenkritik zu einer „Christus-Substantiation“ als Kunst – besonders deutlich in der Brechung der Tradition der sog. Herz-Jesu-Heiligenbildchen.      
Die zum ersten Mal 2011 auftretende Kunstfigur Conchita Wurst (alias Tom Neuwirth, geb. 1988) rückt ihre Lieder und Performances – man könnte geradezu transperformances sagen – in die Nähe Jesu Christi. Sie inszeniert ihren Körper „transgender“: Es ist der andere Körper: Heterobody als (materialisierte) Heterotopie von Toleranz und Respekt.
Bilanz

Die Veränderungen und Umdeutungen des Religiösen, die Sakralisierung von bisher a-religiösen Orten zeigen die faktisch ungebrochene Präsenz und Wirksamkeit von Religiosität in den unterschiedlichsten Gestaltungsformen. So scheint der russische Philosoph Nikolai Berdjajew (1874-1948) recht zu behalten, nämlich dass der „Mensch unheilbar religiös“ sei. Angesichts unerreichbarer Utopie schafft er sich Heterotopien und inszeniert das Religiöse immer wieder und oft unerwartet neu.             
Auf diese Bewegungen mit aufschlussreichen Beispielen aus Kunst und Literatur, aus Vergangenheit und Gegenwart aufmerksam gemacht zu haben, ist ein wichtiges Verdienst dieses Buches. Es regt z.T. provokativ zu weiteren „Ein-Sichten“ in die Veränderungen der religiösen Gegenwartslage an.
Reinhard Kirste

Rz-Metzger-Religiöse Räume, 31.05.2016  

CC

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