Montag, 7. Februar 2022

Navid Kermani: Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels --- Dialogische Begegnungen (aktualisiert)


Navid Kermani, Dr. phil., geb 1967, habilitierter Orientalist und Schüler von
Nasr Hamid Abu Zaid. Kermani studierte Islamwissenschaft, Philosophie und Theaterwissenschaft in Köln, Kairo und Bonn. Er arbeitete an verschiedenen Schauspielhäusern als Dramaturg und wurde vielfach für sein literarisches Werk ausgezeichnet.

Bisherige Friedenspreisträger und ihre Reden: hier 
 
BESPRECHUNGEN 
Neu erschienen:

Jeder soll von da, wo er ist,
einen Schritt näher kommen:
Fragen nach Gott. 
München: Hanser 2022, 240 S.

NAVID KERMANIS NEUES BUCH:Wie soll man über etwas reden, für das es keine Worte gibt?
(Mark Siemons, FAZ, 06.02.2022)

 














Navid Kermani:
Ungläubiges Staunen.
Über das Christentum.

München: C.H. Beck,
bereits 2. Auflage 2015. 303 S.,
mit 49 farbigen Abbildungen
--- ISBN 978-3-406-68337-4 ----



Ausführliche Beschreibung
In der Vorrede zu seinem Buch „Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran“ (C.H. Beck 1999) schreibt
Navid Kermani (S. 9): „Religionen haben ihre Ästhetik. Sie sind nicht Ansammlungen schlüssig begründeter Normen, Wertvorstellungen, Grundsätze und Lehren, sondern sprechen in Mythen und damit in Bildern, kaum in abstrakten Begriffen, binden ihre Anhänger weniger durch Logik ihrer Argumente als die Ausstrahlung ihre Träger, die Poesie ihrer Texte, die Anziehung ihrer Klänge, Formen, Rituale, ja ihrer Räume, Farben, Gerüche“. Diese Erkenntnisse spiegeln auch das neue Buch im Kontext des Christentums.
Insgesamt lässt der Friedenspreisträger 2015 vierzig Szenen-Erlebnisse des christlichen Glaubens Revue passieren. Malerei, Architektur und Begegnungen mit besonderen Christenmenschen lassen Religion und Ethik in unerwartetem Licht erscheinen und zeigen zugleich eine Leidensmystik, Sinnlichkeit und religiöses Aufbegehren an, die bei einer mehr oberflächlichen Betrachtung des Christentums leicht verloren gehen können. Der Begriff des „ungläubigen Staunens“, wird nun fast zur Metapher über die Annäherung an göttlich Geheimnisvolles. Zwischen Befremden und Hingerissensein lässt Kermani die Bilder auf sich wirken, wobei Mittelalter und (italienische) Renaissance dominieren. Das jeweils typische dieser Begegnung mit dem Christentum blendet er nicht aus, vielmehr merkt er immer wieder an, wie die Kunst das Lehrhafte übersteigt und zu tieferer Betrachtung einlädt. Er wollte auch keine kunsthistorische Auslegung schreiben, sondern sich auf eine meditative Schauens-Bewegung einlassen. Da treten auch die einzelnen religiösen Traditionen vor der „Religion“ in den Hintergrund.
Die eigene muslimische Erfahrung bestärkt und verschärft das Fragen angesichts der christlichen Bilderwelt. Er entdeckt ein Christentum, besser vielleicht viele Varianten eines Christentums, in dem die Grundfragen menschlichen Lebens genauso thematisiert werden wie in seiner eigenen Religion. Dabei lässt er sich ohne Vorbedingung auf diese Art der Begegnung mit dem Christentum ein. Wen verwundert es, dass er das Kreuz als Skandal ansieht und nicht akzeptieren kann oder will. Doch Achtung – ernsthafte Christen akzeptieren sog. Kreuzes- und Opfertheologien auch nicht ohne Schrecken und Vorbehalte.

Die Auswahl der Bilder und Bild-Begegnungen scheinen mir keineswegs zufällig zu sein. Kermanis Eintauchen in die deutsche Literatur und gewissermaßen eine Rückenstärkung durch die Vielfalt islamischer Mystik ermöglichen ein neues Sehen, vielleicht kann man sagen – Durchblicke zwischen Kafka und Koran.
Diese Betrachtungen, zuerst schrittweise in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen, werden im Buch durch eine besondere Systematik zusammengebunden. Es sind drei Themenfelder: Mutter und Sohn, Zeugnis, Anrufung. So kommen bestimmte Ereignisse oder Denkbewegungen besonders in den Fokus.
Das Geheimnis Gottes überhaupt und die Gottesbilder in der Gestalt Jesu kommen im Themenfeld I zur Sprache. Das meditative Schauen ist eigentlich ein beeindruckendes Nachsehen, so wie Mose auf dem Berg Sinai bei Gott das „Nach-Sehen“ hatte (2. Mose 33,18–23). In Kermanis Betrachtung von „Der gute Hirte“ aus der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts im Mausoleum der Galla Placida in Ravenna sagt er darum: „Jesus steht für die Erscheinung Gottes im Menschen, für alle göttliche Schönheit, die auf Erden sichtbar sei“ (S. 91). Oder nehmen wir Stefan Lochners „Muttergottes in der Rosenlaube“ im Wallraf-Richartz-Museum Köln: „Wenn der Größte Meister des Sufismus behauptet (sc.: Ibn Arabi), dass die Anschauung Gottes in der Frau die vollkommenste sei, geben ihm die Bilder der Christen recht. Nie ist es gelungen, den Vater auch nur halbwegs glaubhaft zu malen“ (S. 97f).  
Abdruck dieses Textes „Gott II“ in SPIEGEL online vom 22.08.2015: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-138273667.html

Beim Themenfeld II geht es um Zeugnis“ man darf wohl auch Bezeugung sagen. Dem Autor ist anzumerken, dass bei der Betrachtung eines Bildes von Georges de la Tour, ihn die Persönlichkeit des Franziskus von Assisi und besonders dessen schmerzvolle Ekstase innerlich bewegen. Im Unterschied zu den ebenfalls Faszination auslösenden „Entrückungen“ der Teresa von Ávila schreibt er: „Wichtiger als die individuelle Erfahrung Gottes und die eigene Vervollkommnung war ihm (sc. Franziskus] der Dienst an den Menschen. Daher betrieb er nicht Buße, um sich zu läutern … Franziskus‘ Schmerz geschieht ihm, ihm werden genaugenommen nicht Verletzungen zugefügt, nicht Wunden, sondern Wundmale“ (S. 155). Kermanis verstehende Verehrung kommt auch in dem zweiten Beitrag über den Hl. Franz zum Ausdruck, und zwar unter dem Stichwort „Freundschaft“ im Themenfeld III: Anrufung. Dort hebt der Autor die im ersten Beitrag nur angedeutete friedfertige Dialogfähigkeit des „Poverello“ in der Begegnung mit dem ägyptischen Sultan hervor – der Hl. Franz eben nicht als Kreuzritter, zu dem man ihn alsbald machen wollte. Kermani sieht im dazugehörigen Bild der sog. Chartula von 1224 das „vielleicht früheste Dokument der Freundschaft zwischen Christentum und Islam“ (S. 289). Im Zusammenhang mit den historischen Forschungen der Franziskaner zitiert er die Nonne, Kathleen A. Warren: „Was immer andere über die Sarazenen [= die Muslime] dachten, Franziskus lernte sie als gläubige, betende, vom Frieden erfüllte Menschen kennen“ (S. 287). In Begegnung mit der Religiosität der Sufis sieht der Autor darum ein direktes Verbindungselement zu christlicher Spiritualität (S. 285).

Die andere faszinierende Persönlichkeit ist der Priester Paolo Dall’Oglio (S. 168–173). Hier steht als Bild ein TV-Screenshot vom 28.07.2013 als optische Begleitung zu dem, was Kermani an diesem Christen so fasziniert.
Der Autor hatte Pater Dall‘Oglio im September 2012 vor Ort im Kloster Mar Musa in Syrien besucht. Der Pater baute seit 1984 mit Freiwilligen die Klosterruine nach und nach wieder auf. Er machte das Kloster zu einer Begegnungsstätte von Christen und Muslimen in der Region und darüber hinaus. In der klösterlichen Abgeschiedenheit leben Mönche und Nonnen (eine Besonderheit in der katholischen Kirche!). Menschen aus aller Welt, die bisher kamen, wurden gastfreundlich umsonst aufgenommen und halfen dann als Dank im Kloster mit. Und muslimische Pilger können in der Kapelle vor die arabische Schrift hintreten und Richtung Mekka beten: „Im Namen Gottes des Gnädigen und Barmherzigen“ (S. 173).
Pater Paolo, unerschrockener Kämpfer für Gerechtigkeit und Frieden, hat seit den revolutionären Aufbrüchen in Syrien immer wieder zwischen den Fronten vermittelt. Er suchte während des brutaler gewordenen Bürgerkriegs die verfeindeten Gruppen auf und riskierte dabei sein Leben. Seit dem Spätsommer 2013 ist Paolo Dall’Oglio wahrscheinlich entführt worden. Es gibt leider seitdem kein Lebenszeichen mehr von ihm!
Mehr zu Paolo Dall’Oglio: http://intra-tagebuch.blogspot.de/2014/01/mar-moussa-ein-kloster-des-christlich.html
2013 kam ein Buch dieses interreligiösen Brückenbauers heraus: La rage et la lumière (Die Wut und das Licht). Dort beschreibt er ausführlich, wie er sich als Vermittler und Versöhner in der syrischen Revolution bzw. im Bürgerkrieg versteht. Kermani hat dem Priester hier ein schönes dialogisches Denkmal gesetzt.

Und schließlich das Themenfeld III: „Anrufung“. Beim Opfer des Abraham (mit einem Bild von Caravaggio: Die Opferung Isaaks) schaut Kermani kritisch auf die eigene islamische wie auf die benachbarte christliche Tradition und denkt, dass der Engel selbst kaum glauben kann, dass Abraham einen solchen Befehl wirklich ausführen würde. Er resümiert: „Ich gründe sie [sc. meine Deutung] auf die Liebe, die Gott in den gleichen Schriften [sc. Koran, Bibel] und erst recht in seiner Schöpfung offenbart“ (S. 203). In der Meditation zu Lust II (S. 255–259) kommt er auf die Begegnung der legendären Eltern Marias, Joachim und Anna, an der Goldenen Pforte zu sprechen, ein Fresko von Giotto di Bondone in der Arenakapelle Padua. Hier sieht man die alt gewordenen Liebenden sich innig küssen! Und so verrät Kermani, welche Stelle aus der Bibel ihm die liebste wäre, nämlich Hoheslied 8,6f: Denn Liebe ist stark wie der Tod …“ und er entdeckt zugleich, dass dem Christentum die Lust keineswegs fremd ist, wie er vor-urteilend gegenüber den vielen erstarrten Formen des Christentums glaubte (S. 258/259).

Bilanz:
Es ist nicht möglich, die Vielfalt von Kermanis Betrachtungen hier zu würdigen. Aber sie zeigen alle eine Besonderheit: Wer das kindliche Staunen nicht verlernt hat, dem eröffnet die Begegnung mit alter und moderner Kunst des Christentums neue Sichtweisen. Das „ungläubige“ Staunen bekommt so einen mehrfachen Sinn. Da verweilt der Verfasser bewundernd und offensichtlich ungläubig gläubig. Er zeigt damit zugleich an, wie sehr Kunst verschiedene Glaubensweisen versöhnen kann. Auf zuerst fremde Bilder meditativ ein-gehen und in die persönliche Erlebniswelt ein-binden: solche Ein-Lassung wird zum Ort des Dialogs. Diese Bildbetrachtungen aus islamischer Sicht dürften bisher einzigartig sein! Der deutsche Schriftsteller mit iranischen Wurzeln zeigt an, welch tiefe Kraft in Bildern steckt und wie sie die Betrachtenden verändert ent-lassen. Es lohnt sich für Glaubende und Nicht-Glaubende, diese Bilder noch einmal zu "lesen" und ganz in Ruhe auf sich wirken zu lassen. Göttliches spiegelt sich menschlich und lässt zugleich in das „gottselige Geheimnis“ eintauchen, das „kündlich groß“ ist (1. Tim 3,16), nämlich wie facettenreich künstlerische Sensibilität von Gott erzählen kann. Kermani hat beeindruckend deutlich gemacht, wie dabei die konfessionellen Schranken der Religionen ins Unbedeutende absinken. Hier ist ein Buch entstanden, das den Dialog auf besondere Weise beflügelt. 

Die Interreligiöse Bibliothek hat diesen Titel zum
Buch des
Monats Oktober 2015 ausgewählt.


Inzwischen ist bereits eine spanische Übersetzung erschienen:Incrédulo asombro. Sobre el cristianismo.
Madrid: Trotta 2018, 264 pp.


"Die Liebe zum Eigenen erweist sich in der Kritik ..."
Qantara.de: Das Christentum eines ungläubig Staunenden, 26.10.2015


Interview mit Navid Kermani:
"Mir geht es um Europa ..." Über den Skandal der europäischen Flüchtlingspolitik.

Eulenfisch Nr. 14 (August 2015), S. 118-119

Reinhard Kirste
Bücher von Navid Kermani
mit Rezensionsnotizen bei "Perlentaucher": hier


Presseinformation des Herder-Verlags zur Neuausgabe:
Navid Kermani erzählt - Nasr Hamid Abu Zaid - Ein Leben mit dem Islam - Aus dem Arabischen übersetzt von Cherifa Magdi (2015, 222 S.)
Rezension der Ausgabe von 1999
- sowie weitere Informationen zu Nasr Abu Zaid: hier


Navid Kermani, der zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse am kommenden Sonntag den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat, erzählt das Leben seines Lehrers Nasr Hamid Abu Zaid. Der islamische Luther, wie Abu Zaid (1943 bis 2010) auch genannt wird, war der große Reformdenker der islamischen Welt. Er unternahm den gefährlichen Versuch, den Koran für die Moderne zu öffnen. Kermanis Erzählung umspannt das Leben Abu Zaids von seiner Kindheit in der einfachen und phantasievollen Welt des Dorfes Quhafa bis zur Flucht ins Exil vor der lebensbedrohenden Fatwa.

Im Buch verbinden sich Erzählung und Reflexion eines Muslims in der Diaspora. Aus dem Orient kommend, lebt Abu Zaid in den Zentren des westlichen Lebens und das Buch erzählt von seinen Erfahrungen und Visionen, davon, was ihn als Gelehrten bewegt und was sein Leben geprägt hat: Interpretation und Verständnis des Koran, das Verhältnis von Islam und Politik, der Islamismus – und immer wieder sein persönliches Verhältnis zur Religion. Mit dieser Erzählung erhält der Islam ein faszinierendes Gesicht. 

Rz-Kermani-Staunen, 13.10.15  u.ö. 




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