Dienstag, 30. Juli 2019

Raum-Begegnungen der Religionen: Reflexionen - Raumtypen - Einblicke/Ausblicke (aktualisiert)




Bärbel Beinhauer-Köhler,

Mirko Roth, 

Bernadette Schwarz-Boenneke

(Hg.):
         


Viele Religionen –
ein Raum?! 
Analysen, Diskussionen
und Konzepte
          
Berlin: Frank & Timme 2015, 240 S.,
zahlreiche Abb.

--- ISBN 978-3-7329-0065-7 ---

Ausführliche Besprechung
Die kulturellen Veränderungen in unserer Gesellschaft haben in den letzten Jahren nicht nur immer stärker werdende Säkularisierungseffekte gebracht, sondern auch neue religiöse Sicht- und Zugangsweisen. Dazu gehört ganz konkret inzwischen eine beachtliche Zahl von Räumen der Stille, des Gebets und der Andacht, die nicht nur für eine Kirche oder Konfession, sondern für alle Religionen offen sind. Die Gestaltungsformen sind vielfältig und spiegeln wie in einem Brennglas multireligiöse Markierungspunkte unserer Gesellschaft.

Ein gern besuchter Ort ist der schon seit 1994 existierende Raum der Stille am geschichtsträchtigen Brandenburger Tor in Berlin:      
(vgl. den Bericht von K.-W. Tröger in RIG 8/2004). 


Inzwischen haben sich viele Krankenhäuser, Sportstadien, Parlamente, Flughäfen, Bahnhöfe, Universitäten ... mit ihren Andachtsstätten allen Religionen geöffnet. In diesen Räumen der Stille kommt der Respekt vor den anderen Glaubenstraditionen durch die Ausgestaltung mit Bildern, Lichtinstallationen oder Symbolen zum Ausdruck. Gespräche und spirituelle Begleitung sind möglich.


Das vorliegende Buch reflektiert eine Tagung vom Juli 2013 an der Universität Marburg. Sie behandelte Fragen, die durch verstärkte Interessen an Religion(en) besonders wichtig werden:    

Welchen Stellenwert haben (multi-)religiöse Räume insgesamt? Aus welchen Gründen wurden/werden solche Räume eingerichtet? Ist es nur der Raum für eine Religion, aber offen für andere Glaubensweisen? Sollen mehrere unterschiedliche Räume in einem „Haus der Religionen“ sein? Soll der Raum „leer“ sein oder mit Symbolen der Religionen versehen werden? Wie stellt man sinnvolle Regeln gemeinsamer Nutzung eines multireligiösen Raumes auf?

Als Herausgeber des Bandes zeichnen zwei Religionswissenschaftler von der Universität Marburg verantwortlich, Bärbel Beinhauer-Köhler und Mirko Roth sowie Bernadette Schwarz-Boenneke, die als Leiterin des „Trialogs der Kulturen“ mitwirkte. Hier handelt es sich eine interreligiöse Initiative der Herbert-Quandt-Stiftung mit dem Schwerpunkt auf Schulen. Bernadette Schwarz-Boenneke hebt bereits in der Einleitung die grundsätzliche Motivation hervor, Räume der Stille einzurichten:          

„Der Raum soll allen offen stehen, unabhängig von Konfession, Religion oder Weltanschauung. Angesichts des zunehmenden Bewusstseins für die weltanschauliche und religiöse Vielfalt in Deutschland werden diese so genannten Räume der Stille als Möglichkeit gesehen, dieser Vielfalt Platz zu geben, einen Begegnungsraum zu schaffen und – so in einigen Fällen die Intention – den Dialog zu fördern“ (S. 7).

Die Tagungsstruktur aufnehmend, werden folgende Themenfelder angesprochen:

  1.   Reflexionen: Machtstrukturen, Konfliktfelder, Nutzungskonzepte
  2.  Raumtypen: Institutionen auf der Suche nach religiösen Gemeinschaftsräumen       
  3.  Einblicke: Räume zwischen den Religionen in Deutschland und der Schweiz
  4.  Ausblick: Weg-Orientierungen für religiös plurale Räume

Im 1. Teil stellt der Soziologe Markus Schroer (Universität Marburg) ein wenig mit Erstaunen fest, wie der Einfluss einer bestimmten Religion im Umgang mit sakraler Architektur und der Gestaltung multireligiöser Räume nicht im Vordergrund bleibt. Während die klassischen Kirchen oft in säkulare Räume (aus-)wandern, kommen die Künste verstärkt in religiöse Räume. Insgesamt muss die Begegnung mit anderen Religionen in multireligiösen Räumen als Herausforderung gesehen werden, nämlich, wie sich die eigene Religion vermittelt und präsentiert, insbesondere in welcher Weise Religionen solche Räume (auch gemeinsam) nutzen. Die von dem Sozialwissenschaftler Alexander-Kenneth Nagel (Universität Bochum) eingebrachte religionssoziologische Perspektive weist anhand von Beispielen aus dem Ruhrgebiet auf die Ambivalenz multireligiöser Innen-Räume hin: Kontaktzone, Spannungsfeld oder gar konfessionelle Abgrenzungsmuster? Die Mitherausgeberin Bärbel Beinhauer-Köhler zieht indische Beispiele aus der Geschichte des Subkontinents heran, ferner den Raum der Stille im UNO-Gebäude New York sowie das Baha’i-Haus der Andacht in Hofheim-Langenhain. Solche Örtlichkeiten können Anlass für religiöse Konflikte sein, aber auch als offene Erfahrungsräume mit entsprechenden (gestalterischen) Arrangements. Besonders schön wirkt das Beispiel der ev. Kirche in Mümling-Grumbach (Hessen) mit dem dort innen eingebauten vorchristlichen Matronenstein. Ute Verstegen, Archäologin und Kunstgeschichtlerin (Universität Marburg) befragt die Geschichte heiliger Orte. Das betrifft z.B. die Konfliktfelder des Jerusalemer Tempelberges, der Grabeskirche oder des indischen Ayodhya. Aber es gibt auch gemeinsame Verehrungsorte von Christen und Muslimen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Maria, der Mutter Jesu, stehen. Besonderheiten bilden in der Geschichte sog. Zweiraumkirchen für den byzantinischen und lateinischen Ritus und mitteleuropäische „Simultankirchen“ in nachreformatorischen Zeit.

Im 2. Teil werden die bisher mehr grundsätzlich angesprochenen Themen hinsichtlich der Raumtypen vertieft. Das führt die im interreligiösen Lernen engagierte Alina Bloch (Universität Kassel) vor, und zwar durch Raum- und Konzeptbeschreibungen ausgewählter Schulen mit ihren Räumen der Stille (Schulen in Riedstadt, Darmstadt, Marsberg). Wesentlich scheinen die Aspekte des Zur-Ruhe-Kommens und des (inter-)religiösen Feierns zu sein. In der Hektik des Schulalltags haben sich solche Räume in besonderer Weise bewährt. Ich würde dies durchaus „Tankstelle oder Rastplatz für die Seele“ nennen (vgl. S. 121). Stephanie Matthias (Universität Hannover) schaut sich mit einer ähnlichen Motivation Räume der Stille an säkular geprägten Universitäten an. Der angestrebten weltanschaulichen Offenheit solcher Räume der Besinnung steht jedoch die faktische Wahrnehmung einer religiösen Prägung gegenüber. Interessant ist darum nicht nur die Ausrichtung des Hauses der Stille an der Universität Frankfurt/M., sondern auch die Stille-Räume an den Universitäten Paderborn, Oldenburg (nicht mehr existierend) und Hannover. Sie zeigen eine religiöse „Verdichtung“ allerdings nicht in konfessioneller Prägung. Die Berechtigung solcher Räume an einer Hochschule bleibt offensichtlich strittig, wie der Rezensent für die TU Dortmund bestätigen kann, weil die Universitätsleitung aufgrund ihrer bewusst säkularen Ausrichtung solche Räume offiziell an der Universität ablehnt.

Im 3. Teil geht es schließlich um die Darstellung einzelner Räume in Deutschland und der Schweiz, eine vielfältige höchst interessante Auswahl, in der nun ausführlich Rudolf Steinberg, von 2000–2008 auch Präsident der Goethe-Universität Frankfurt, das „Haus der Stille“ auf dem Westend-Campus vorstellt. Ihm folgt Gerda Hauck-Hieronimi, die Koordinatorin des Hauses der Religionen in Bern. Hier haben sich seit 2013 die Aktivitäten und der Dialog zwischen den dort beheimateten acht Weltreligionen erweitert und vertieft. Die offizielle Eröffnung konnte am 14.12.2014 gefeiert werden (vgl. die Homepage https://www.haus-der-religionen.ch/de/europaplatz).

Dagegen ist das Bet- und Lehrhaus Berlin: The House of One noch in der Planungsphase (ein Entwurf diente den Herausgebern als Buchcover). Die theologisch Verantwortlichen der Kirchengemeinde St. Marien – St. Petri, Gregor Hohberg und Roland Stolte, stellen vor, wie die drei Abrahamsreligionen in Räumen nebeneinander zu Hause sein sollen. Zugleich kann der der leere Mittelraum ein Begegnungsforum bilden. Wie man dazu ein baulich stimmiges Konzept umsetzen will, erläutert der mitverantwortliche Architekt Wilfried Kuehn.

Schließlich kommt – von Bärbel Beinhauer-Köhler und dem international erfahrenen Betriebswirt Christian Meyer – die besondere Situation des Frankfurter Flughafens zur Sprache, und zwar mit den einzelnen Gebetsräumen für Juden, Christen und Muslime, also faktisch ein religiöses Nebeneinander in den Terminals. Eine bisher einmalige Besonderheit bildet die entwidmete katholische Kirche in Taunusstein, die der Bestattungsunternehmer Wortmann gekauft und zu einem bewusst multireligiösen Raum umgebaut hat. Christa Frateantonio, Religionswissenschaftlerin mit Schwerpunkt Bestattungskultur (Universität Marburg) beschreibt hier die Möglichkeiten von Trauerfeiern für Menschen unterschiedlichster Glaubensweisen und Weltanschauungen.

Der Ausblick im 4. Teil von Bärbel Beinhauer-Köhler ist der Versuch einer thesenartigen Zwischenbilanz, die angesichts unterschiedlicher, divergierender, aber auch auf bewusstes Miteinander ausgelegten Konzepte und Realisierungen erste Orientierung geben kann. Der Weg zum religiös pluralen Raum in einer säkularen Gesellschaft bietet viele Möglichkeiten und Stolpersteine. Darum sind klare Funktionszuweisungen, sorgsame Beachtung im Blick auf die Nutzer und mediatorische Begleitinstrumente nötig, um Missverständnisse, Ärger und Schwellenängste abzubauen bzw. zu verhindern.

Die Tagung in Marburg selbst brachte durch die Darstellung und Diskussion vieler (inter-)religiöser Initiativen und Besinnungsorte in den Workshops neben den zentralen Veranstaltungen noch ein weit umfassenderes Bild ein, wie der Rezensent selbst erleben konnte. Die Fragestellung „Viele Religionen – ein Raum?! wird also weiterhin zu intensiver Beschäftigung anregen und nötigen. Die von den Herausgebern vorgelegte und systematisierende Zusammenstellung mit ausgewählten Beispiel-Orten und wichtigen erläuternden Fotos ist ein entscheidender Schritt, dieses Thema im Sinne eines friedlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen voranzubringen.


Reinhard Kirste

Rz-Beinhauer-religiöser-Raum, 31.03.15 , mehrfach überarbeitet: 30.07.2019

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