Samstag, 9. Februar 2013

Kultur besser verstehen - das Handbuch Kulturphilosophie





Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie.
Stuttgart / Weimar: Metzler 2012, 468 S., mehrere ausführliche Register
--- ISBN 978-3-476-022369-8 ---
Kurzrezension: hier

Ausführliche Beschreibung
Konersmann gehört zu den Vorreitern einer Disziplin, die Zusammenhänge der „von Menschen gemachten Welt“ durchdenkt und damit Kultur und Philosophie ständig miteinander ins Spiel bringt. Auf seiner Universitäts-Homepage beschreibt der Kieler Philosophieprofessor, was ihn vorantreibt. „Die Arbeit des Lehrstuhls ist von der übergeordneten Frage bestimmt, wie Denken und Wissen das Selbstverständnis von Kulturen pragmatisch bestimmen. Das heißt für die Kulturphilosophie, daß sie klären muß, was es bedeutet, die Wirklichkeiten, in denen wir leben, in der Summe als Ausdrucksgestalten menschlicher Kultur zu erfassen. Das heißt für die Fachdidaktik, daß sie die sichtbare Seite der Philosophie, ihre Beispielhaftigkeit und ihren kulturellen Anspruch verdeutlichen muß“. Als Lehr und Forschungsschwerpunkte ergeben sich darum für ihn:
  • Ausdrucksformen der Philosophie (Text/Bild)
  • Bildungsansprüche und Bildungskonzepte
  • Geschichte und Systematik der Kulturphilosophie 
  • Aktualität der Kulturkritik
  • Metaphern und philosophische Metaphorologie

2003 hatte er bereits eine Einführung zur Kulturphilosophie geschrieben (Hamburg: Junius-Verlag). Dort legt er dar, warum diese notwendig wurde, auf welchen Grundbegriffen sie aufbaut und welches ihre wichtigsten Vertreter sind. Das von ihm nun herausgegebene „Handbuch Kulturphilosophie“ bietet eine bisher so nicht vorhandene Basis, die die Schwerpunkte und Übergänge benennt, Begriffe und Geschichtsentwicklungen mit Hilfe einzelner Artikel vorstellt. Die einzelnen Beiträge haben kompetente Fachleute verfasst, die in der Lage sind, die in diesem Bereich sich überschneidenden Themenfelder genauer zu beleuchten. Dies ist allerdings nicht leicht zu bewerkstelligen, weil sich eben nicht „eingrenzen“, „definieren“ lässt, was „Kultur“ wirklich ist. Kulturphilosophie taucht darum in vielen Disziplinen auf. Und so fokussiert das Handbuch die Antwort vorläufig so: „Kultur ist die Welt des freigestellten Menschen“ (S. VII). Was dies bedeutet, müssen die thematischen Schwerpunkte (Kap. II), die Systematik der Übergänge (Kap. IV) und eine Begriffsauswahl (Kap. V) näher erläutern. Als Definitionsstützen dienen dabei auch die Metaphern für Kultur (Kap. VI). All dies sichern die AutorInnen an „Leitfiguren“ einigermaßen ab, indem sie der Vorgeschichte der Kulturphilosophie (bis 1900), diejenigen der entscheidenden Gründungsphase (1900-1945) und schließlich ihren Aktualisierungen bis in die Gegenwart nachgehen (Kap. III). Für die einzelnen Phasen gibt es eine bewusste Auswahl von Protagonisten:
  •  III.1.  Vorgeschichte: Vico Giambattista, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Gottfried Herder, Friedrich Schiller, G.W.F. Hegel, Friedrich Nietzsche.
  •  III.2.  Gründungsphase: Georg Simmel, John Dewey, Ernst Cassirer und seine Wirkungsgeschichte, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein, Antonio Gramsci und Walter Benjamin,
  • III.3.  2. Hälfte des 20. Jahrhunderts u.a.: Max Scheler, Marx Horkheimer, Ludwig Marcuse, Siegfried Kracauer, Leo Löwenthal, Oskar Negt, Alexander Kluge, Max Horkheimer, Jürgen Habermas, Claude Lévi-Strauss, Hans Blumenberg, Michel Foucault und Richard Rorty.
 Angesichts der oft divergierenden Vielfalt sei auf entscheidende Schnittpunkte verwiesen, die sich gut an den Unterschieden zwischen Georg Simmel (1858-1918) und seinen Schüler Ernst Cassirer (1874-1945) festmachen lassen: Anders als Simmel sieht Cassirer keine Notwendigkeit, eine heile Kultur wiederzugewinnen; für ihn besteht die Kultur als Spielraum von Variationen. Dahinter entdecken die Artikel-Verfasser Willfried Geßner, Ursula Renz, Isabella Woldt und Cornelia Richter eine ganz neue Vorstellung des kulturellen Werkes: Es ist konstitutiver Teil eines Kommunikationsgeschehens zwischen Subjekten, die als Schöpfer des Werkes ebenso wie als Interpret dem Werk überhaupt erst Bedeutsamkeit verleihen. Damit ist die Rezeption eines Werkes keine rein passive Angelegenheit, und es wird der Druck genommen, einen im Werk verborgenen Sinn einholen zu müssen. Auch teilt sich die Kultur nicht mehr auf in eine höhere Ebene des Schaffens und eine untergeordnete des Verstehens oder Interpretierens; denn beide Seiten treffen sich aktiv und schöpferisch im Werk.
 Nach den stärker an Personen orientierten Darstellungen werden nun Beziehungsfelder angesprochen, die sich – den eigenen Bereich übergreifend – als Übergänge (Kap. IV) manifestieren, und zwar in der Architektur, im Design, in der Geschichte, der Gesellschaft, der Kunst, der Moral, der Natur, der Politik, der Religion, der Rhetorik, der Sprache, der Technik, der Wirtschaft und Wissenschaft. Diese „Querverbindungen“ stecken zugleich einen ausgesprochen weitläufigen Rahmen ab, durch den die Vielfalt von gesellschaftlicher Vergangenheit und Gegenwart als Lebenswirklichkeit präsent wird. Es ist in einer solchen Rezension nicht möglich, diese Vielfalt angemessen beschreibend zu berücksichtigen.
Den Rezensenten macht es aus einer interreligiösen und interkulturellen Perspektive neugierig, welche Rolle Religion in einem solchen Kontext spielt. So werden Zusammenhänge besonders deutlich durch die Überlegungen zu philosophisch geprägter Interkulturalität von Rolf Elberfeld (in Kap. II, S. 39-45). Birgit Recki stellt variierende Verständnisse von Moral dar. Diesen lassen sich dann Aspekte von Religion zuordnen, wie das Michael Moxter, systematischer Theologe an der Universität Hamburg ausführt. „Identität“ (Jürgen Straub), „Fremdheit“ (Kurt Röttgers) und „Gastlichkeit“ (Harald Liebsch) entwickeln sich dabei zu hermeneutischen Brücken. So passt es gut, dass  Moxter auf der Basis von Sinndeutung Religion untersucht. Die Gesichtspunkte von Projektion, Institutionalisierung und Mythos erhalten dabei eine Leitfunktion für unterschiedliche Religionsverständnisse. Darum braucht er Paul Tillichs Religionsbegriff als „Substanz von Kultur.“ Dieser wird für ihn zum Ausgangspunkt einer knappen systematisierenden Beschreibung verschiedener Religionstheorien wie denjenigen von Rudolf Otto, Hermann Lübbe, Jacques Waardenburg und Niklas Luhmann. Besondere Beachtung widmet der Autor dem Zusammenhang von Religion und Kunst, den er philosophie- und theologiegeschichtlich anspricht. Zum Schluss des Artikels gibt es dann noch eine ausführliche historisch angelegte Umschreibung von „religio“ und den dahinter stehenden Deutungshorizonten.
Wie unterschiedlich die jeweiligen Zugänge und Definitionsvoraussetzungen von Kulturphilosophen auch sein mögen, dieses Buch schafft es, in der Auseinandersetzung mit einer Fülle von Kulturverständnissen Kultur als einen lebendigen Prozess zu sehen, der nie zu Ende ist. Man kann es als eine Art systematisierendes Lexikon bezeichnen, das neben einem ordnenden geschichtlichen Rückblick und einer thematischen Aufbereitung für eine Zukunftsoffenheit von Kultur plädiert. Darum sind keine abschließenden Urteile möglich, geschweige denn Verurteilungen. Die einzelnen Autoren machen zwar deutlich, dass bestimmte Entwicklungen in der Kultur kritisch zu betrachten sind, Kulturpessimismus ist insgesamt jedoch nicht angebracht. Es bleibt darum  höchst zweifelhaft, mit Adorno vom Misslingen der Kultur (S. 173f) zu sprechen, weil er mit einem Kulturbegriff arbeitet, der die Humanität nicht von vornherein einschließt. So dürfte Habermas generell weiterführend sein, der „für eine Kultur der intersubjektiven Verständigung und der wechselseitigen sozialen Anerkennung“ plädiert (S. 176).  

Im Sinne des Letzteren werden die Leser dieses weit ausholende Werk dankbar annehmen, auch wenn natürlich nicht die vielen verwandten Strömungen im Horizont einer „crosscultural“ Philosophie besprochen werden konnten. So haben angesichts gegenwärtiger Trends und Moden z.B. die Freizeit und der Tourismus keinen eigenen Bearbeitungsschwerpunkt bekommen. Das ändert aber nichts daran, dass hier ein Standardwerk nicht nur zur Kulturphilosophie, sondern zum Kulturverständnis überhaupt entstanden ist, auf das man nicht mehr verzichten sollte. Wie sorgfältig die Beiträge in das lexikalische Gesamtkonzept eingearbeitet worden sind, lässt sich übrigens daran erkennen, wenn man die Ausdifferenzierung der Begriffe von Anthropologie, Geschichte, Kultur und Welt allein im Register näher betrachtet und von dort auf die einzelnen Artikel zugreift.
Reinhard Kirste
                                                                                                Rz-Konersmann, kulturphil, 08.02.13

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